Kinderkrebs und seine Folgen –
warum die Nachsorge so wichtig ist
Interview mit Dr. med. Eva Maria Tinner,
Kinderonkologin und -hämatologin am Inselspital Bern und Koordinatorin der Nachsorgesprechstunde am Kantonsspital Liestal.
Frau Dr. Tinner, Sie waren die erste Ärztin in der Schweiz, die eine Nachsorgesprechstunde für ehemalige Kinderkrebspatienten eingeführt hat, die keine geregelte Nachsorge mehr erhalten hatten. Was hat Sie dazu bewogen?
Im Laufe meiner medizinischen Laufbahn wurde mir immer deutlicher bewusst, dass in der Schweiz in Bezug auf die Nachsorge von erwachsenen Kinderkrebs-Survivors ein Vakuum herrschte. Beim Übergang von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin gab es kaum Internisten, die sich für diese spezifische Patientengruppe interessierten und das notwendige Wissen in Bezug auf Spätfolgen mitbrachten, obwohl der Grossteil der Spätfolgen internistischer Natur ist. Dieses Manko entstand auch, weil die nachbetreuenden Grundversorger früher eher spärliche Informationen über die durchgeführte Krebstherapie und die Risiken für Spätfolgen erhielten. In Bern führten wir 2013 den «Passport for Care®» ein und ab 2015 habe ich in Zusammenarbeit mit Dr. med. Anna Minder, Endokrinologin und Internistin, die erste Nachsorgesprechstunde für ehemalige Kinderkrebspatienten in der Schweiz entwickelt. Dieses Projekt wurde innerhalb der Medizinischen Universitätsklinik des Kantonsspitals Baselland durch PD Dr. med. Thomas Dieterle, Forschungsleiter, und Prof. Jörg Leuppi, Chefarzt, unterstützt.
Wenn man hört, dass heute vier von fünf Kindern und Jugendlichen von ihrer Krebserkrankung geheilt werden, hat die medizinische Behandlung grosse Fortschritte gemacht. Wie kommt es, dass Survivors an zum Teil gravierenden Spätfolgen leiden?
Heutzutage kann die Medizin circa 80 – 85 Prozent der Kinderkrebspatienten heilen, in der Hoffnung, dass diese im Erwachsenenalter ein normales Leben führen können. Aber um diese Heilungserfolge zu erreichen, müssen wir Ärzte zum Teil sehr aggressive Therapien anwenden. Oft sind wir gezwungen, an die Grenzen dessen zu gehen, was der kindliche Organismus ertragen kann. Auch wenn Kinder Therapien aufgrund ihrer hohen Regenerationsfähigkeit besser vertragen als Erwachsene, bleiben gewisse Organschäden zurück, die sich zum Teil erst im Alterungsprozess zeigen können. Gleichzeitig ist der kindliche Organismus noch mitten in der Entwicklung, was bedeutet, dass diese Therapien auch durch die Verzögerung oder Beeinträchtigung des Wachstums Spuren hinterlassen können. Werden beispielsweise bestimmte Körperstellen bestrahlt, wird an diesen spezifischen Stellen das Wachstum gestört. Eine Operation oder Bestrahlung kann somit zu Deformitäten führen. Bei der Bestrahlung von Gehirntumoren kann es zu grösseren kognitiven Defiziten kommen, so dass das Risiko besteht, dass ein zuvor gesundes Kind durch die Therapie eine geistige Behinderung davontragen kann. Dank moderner Strahlentherapie und verbesserter Bildgebung wurden grosse Fortschritte bei der Behandlung gemacht. Heute sind manche Krebstherapien milder und gezielter als vor 40 Jahren, wo nur circa 50 bis 60 Prozent der Kinder geheilt werden konnten. Es gibt aber immer noch Patienten, die mit sehr aggressiven Therapien behandelt werden müssen, auch wenn die Spätfolgen dementsprechend schwerwiegend sein werden.
Mit welchen Spätfolgen haben Survivors zu kämpfen?
Während manche Folgeschäden, wie zum Beispiel bei einer Amputation oder Tumorprothese, von Anfang an klar sind, entwickeln sich andere erst langsam und über lange Jahre hinweg. So können zum Beispiel bei Gehirntumoren erst Jahrzehnte nach der eigentlichen Therapie Probleme mit den Hormonen, der Schilddrüse oder der Fruchtbarkeit auftreten. Dieser Umstand macht es schwierig, Spätfolgen sofort zu erkennen und dementsprechend zu behandeln. Vereinfacht könnte man sagen, dass bei ehemaligen Kinderkrebspatienten der Alterungsprozess weiter fortgeschritten ist als bei Gleichaltrigen. Amerikanische Studien, bei denen ehemalige Kinderkrebspatienten regelmässig mit ihren Geschwistern verglichen wurden, zeigen, dass bei den Survivors der «Alterungsprozess » circa 10 bis 20 Jahre früher einsetzt und sie gleich mehrere Probleme haben. Aus diesem Grund kann der äussere Anschein sehr trügerisch sein und vielleicht zu Fehleinschätzungen führen, wenn zum Beispiel eine 30-jährige Patientin auf Herzprobleme hin untersucht werden soll, die bei einer gesunden Frau normalerweise frühestens mit 50 auftreten können. Zusätzlich kommt je nach Krebstherapie ein erhöhtes Risiko für Zweittumore dazu, was frühzeitige Screening-Untersuchungen notwendig macht, so zum Beispiel bei Brust-, Darm und Hautkrebs. Auch Ängste, Depressionen und chronische Erschöpfung können die Lebensqualität der Survivors beeinträchtigen. Um das Risiko der Spätfolgen in solchen Fällen richtig einschätzen zu können, ist eine sehr qualifizierte und differenzierte medizinische Vorgehensweise nötig.
Warum ist die Nachsorge bei ehemaligen Kinderkrebspatienten so wichtig?
Das Ziel der Nachsorge ist, Spätfolgen so frühzeitig zu erkennen, dass schwerere Komplikationen verhindert werden können. Ein gutes Beispiel ist die Herzinsuffizienz. Wenn diese rechtzeitig, also in der Echokardiographie und vor Auftreten von Symptomen, diagnostiziert wird, kann das Herz medikamentös entlastet werden, so dass die Betroffenen im Alltag immer noch ein normales Leben führen können. Wird eine solche Beeinträchtigung zu spät bemerkt, kann auch die beste Intervention keine normale Leistungsfähigkeit mehr bewirken, weil der Schaden schon zu gross ist. Bei anderen Organsystemen ist das ähnlich. Die Nachsorge von ehemaligen Kinderkrebspatienten ist ein sehr komplexes Thema, das hohe Ansprüche an die behandelnden Ärzte stellt. Im Gegensatz zu Gleichaltrigen haben Survivors zum Teil ähnlich wie ältere Patienten, die bereits über 70 sind, mehrere Probleme gleichzeitig. Während es bei den Letzteren vor allem um die Lebensqualität geht, stehen Survivors noch mitten im Leben, haben einen Beruf und vielleicht Familie.
Hinzu kommen die psychosozialen Aspekte der Spätfolgen. So leiden viele Survivors unter einem chronischen Fatiguesyndrom. Weil sie oft extrem müde und weniger leistungsfähig sind, müssen sie streng mit ihrer Energie haushalten, um überhaupt durch den Alltag zukommen. Wird dann nur ein Teilaspekt von der Invalidenversicherung angeschaut, geraten viele von ihnen in persönliche und finanzielle Not, weil sie trotz ihrer Beeinträchtigung als voll arbeitsfähig eingestuft werden – was zum Teil tragische Konsequenzen für die Betroffenen hat. Deshalb macht es auch hier Sinn, die Nachsorge an bestimmten Orten zu konzentrieren, um die Betroffenen auch in diesem Bereich besser zu unterstützen. Bei gewissen Survivors kommt der Einbruch erst 15 bis 20 Jahre nach der eigentlichen Erkrankung: Sie haben eine Lehre gemacht, sind ins Berufsleben eingestiegen und haben eine Familie gegründet. Plötzlich lässt ihre Leistungsfähigkeit nach, sie brauchen mehr Pausen oder haben vielleicht ein Burn-out. Da das Arbeitsumfeld oft nur wenig Verständnis für eine verminderte Leistungsfähigkeit zeigt, kann das Sammeln solcher Informationen an einer zentralen Stelle auch hier zumindest dabei helfen, die Beeinträchtigung in einen anderen Kontext zu stellen.
Wie sieht eine Nachsorgesprechstunde in Ihrer Klinik konkret aus?
Für den Hausarzt ist es oft sehr schwierig herauszufinden, welche Vorgeschichte ein Survivor hat, um ihn oder sie über die individuellen Risiken richtig zu beraten. Vielfach fehlen die notwendigen Informationen, weil die alten Austrittsberichte oft nicht vollständig sind. In unserer Nachsorgeklinik stellen wir auf Basis der alten Krankenakten nach vorher definierten Richtlinien («Passport for Care®») einen detaillierten Überblick über die während der Therapie erfolgten Behandlungen zusammen. Zusätzlich dazu erhält jeder Survivor vor der Nachsorgesprechstunde einen Fragebogen zu körperlichen, psychischen und psychosozialen Problemen. Auf Grund dieser beiden Informationsquellen bestimmt dann ein interdisziplinäres Team aus Onkologen und Internisten, welche Basisuntersuchungen für den Patienten notwendig sind, und welche Untersuchungen zusätzlich gemacht werden müssen. Diese finden dann in Kombination mit Gesprächen am eigentlichen Sprechstundentag in der Klinik statt. Alle Untersuchungsergebnisse und spezifische Empfehlungen zu potentiellen Risiken werden in einem detaillierten Bericht zusammengefasst, der an den Patienten und den behandelnden Arzt geht. Jeder Survivor erhält abschliessend seinen individuellen «Passport for Care®», der die erhaltenen Therapien zusammenfasst und individuelle Empfehlungen darüber abgibt, welche – möglicherweise geschädigten – Organe regelmässig kontrolliert werden müssen. Diese Informationen sind auch elektronisch auf der Survivor-Homepage des «Passport for Care®» erfasst und jederzeit für den Patienten zugänglich.
Wie schätzen Sie generell die Nachsorgesituation in der Schweiz ein?
Alle Spitäler in der Schweiz mit Kinderonkologien versorgen ihre Patienten bis sie circa 18 Jahre alt sind. Danach bieten verschiedene Kliniken sogenannte Transitionssprechstunden an, die aber eher onkologisch ausgerichtet sind. Die Spätfolgen von Kinderkrebs sind sehr vielfältig und können abhängig von der erhaltenen Therapie fast alle Organe betreffen, weshalb der rein onkologische Ansatz zu kurz greift. Es braucht daher interdisziplinäre Sprechstunden, wie sie in Liestal und in Bern angeboten werden. Obwohl es inzwischen verschiedene Ansätze gibt, existiert in der Schweiz noch keine flächendeckende und nach einheitlichen Kriterien definierte Nachsorge. Zusätzlich haben Survivors, die nicht direkt in eine Transitionssprechstunde überwiesen wurden, aktuell nur in Liestal, Bern und Aarau die Möglichkeit eine spezifische Nachsorge zu erhalten.
Wo besteht Ihrer Meinung nach der grösste Handlungsbedarf und welche konkreten Schritte sind Ihrer Meinung nach notwendig, um die Nachsorge in der Schweiz zu verbessern?
Da die Spätfolgen bei ehemaligen Krebspatienten alle Organe betreffen können, müssen diese aus unterschiedlicher medizinischer Sicht untersucht und behandelt werden. Um den Übergang von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin optimal zu gewährleisten, braucht es deshalb interdisziplinäre Transitions- und Nachsorgesprechstunden. Alle gesammelten Informationen sollten an zentralen Stellen in der Schweiz zusammenfliessen, wo auf die Nachsorge spezialisierte Onkologen und Internisten dafür Sorge tragen, dass Survivors einen sicheren Hafen für ihre Probleme finden und nach den jeweils aktuellen, evidenzbasierten Richtlinien nachgesorgt werden.
Wichtig wären einheitliche Zusammenfassungen und Nachsorgepläne auf der Grundlage gemeinsamer Richtlinien, wie sie in der amerikanischen Long-Term Follow Up Guideline der COG, auf welcher der «Passport for Care®» basiert, definiert sind. Noch machen das nicht alle Kliniken in der Schweiz, wir empfehlen aber die amerikanischen Richtlinien, weil diese vollständig sind, stark auf die Interessen des Patienten fokussieren und auch die Empfehlungen der «International Guideline Harmonization Group» berücksichtigen. Die Notwendigkeit der Nachsorge ist klar, aber wir stehen in der Schweiz auch vor einem Ressourcenproblem. Die Nachsorgesprechstunde ist sehr zeitintensiv und wir können momentan nur eine geringe Anzahl von Patienten betreuen. Es wäre wünschenswert, dass wir unser Angebot ausbauen könnten, um mehr Survivors zu betreuen. Dazu bräuchte es allerdings eine grössere finanzielle Unterstützung. Hinzu kommt das Problem der Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Für viele Survivors kann eine hohe Franchise eine zusätzliche Hemmschwelle für den Arztbesuch darstellen, gerade, wenn sie noch keine akuten Beeinträchtigungen spüren. Hier wäre es wichtig, dass die Kassen die Kosten vollumfänglich übernehmen. Nur wenn Survivors möglichst früh im Anschluss an ihre Krebsbehandlung und interdisziplinär begleitet werden, können Komplikationen verhindert werden, die durch die Krankheit, beziehungsweise Therapie, entstehen.
Informationen zum Passport for care:
www.rosenfluh.ch/paediatrie-2018-01/passport-for-care
Zur Person
Dr. med. Eva Maria Tinner ist Kinderonkologin und -hämatologin. Im Rahmen ihrer Weiterbildung kam sie vor allem in England mit dem Thema Langzeitnachsorge für Krebspatienten in Berührung. Ab 2012 war sie Oberärztin in der pädiatrischen Onkologie und Hämatologie des Inselspitals Bern, ab Oktober 2015 bis Juni 2018 ausschliesslich in der Nachsorgeplanung. Seit Juli 2018 arbeitet sie wieder klinisch in Bern sowie in der neu geschaffenen interdisziplinären Cancer Survivor Nachsorgesprechstunde am Inselspital. Seit 2016 ist sie Koordinatorin für das Nachsorgeprojekt des Kantonsspitals Baselland in Liestal. Die dortige Nachsorgesprechstunde bietet seit 2017 Beratung und eine strukturierte interdisziplinäre Nachsorge für erwachsene ehemalige Kinderkrebspatienten aus der ganzen Schweiz an.