«Es hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen»
Susanne Mattle Rohrer, deren Tochter Malin mit 13 Jahren an Leukämie erkrankte
«Ich musste wegen eines Kontrolltermins zur Hausärztin und meldete bei dieser Gelegenheit Malin gleich mit an, weil sie sich in letzter Zeit so erschöpft gefühlt hatte. Da sie zehn Tage zuvor für den anstehenden Ruderwettkampf einen Gesundheitscheck machen musste, war ich aber nicht übermässig besorgt. Aufgrund der auffälligen Blutwerte und der leicht vergrösserten Milz schickte die Hausärztin uns in die Notaufnahme nach Stans. Dort fiel zum ersten Mal das Wort «Leukämie» und wir wurden sofort in die Notaufnahme ins Kinderspital nach Luzern weiter verwiesen. Mein Mann und ich schwankten zwischen Angst und der Hoffnung, es könnte sich um einen Irrtum handeln, aber Malin wurde erneut untersucht und die Diagnose bestätigt. Sie hatte akute lymphatische Leukämie. Innerhalb weniger Stunden stand unsere Welt auf dem Kopf; am Nachmittag waren wir noch bei der Hausärztin und um Mitternacht lag sie bereits verkabelt auf der Kinderonkologie im Spital. Wir waren fassungslos und wussten nicht, was alles auf uns zukommen würde. Es hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen.»
«Bereits am Morgen nach der Diagnose begann Malins Chemotherapie. Die ersten Tage liefen ab wie in einem Film. Ein Termin folgte dem nächsten, ein Arzt dem anderen. Immer wieder gab es Fragen zu klären und wichtige Entscheidungen zu treffen, weil die Therapie Spätfolgen mit sich ziehen kann. Nach drei Wochen, in denen zusätzlich Komplikationen auftraten, durfte sie erstmals für einen Tag nach Hause. Alles drehte sich nur noch um den Krebs oder eher um den Kampf gegen den Krebs. Weil die Standardchemotherapie bei Malin nicht genügend anschlug, wurde sie in die sogenannte Hochrisikogruppe eingestuft. Das hiess, über viele Monate hinweg noch mehr und noch aggressivere Chemotherapie und führte zu lebensbedrohlichen Komplikationen. Aber Malin hat einen unglaublichen Durchhaltewillen – sie hat es geschafft und überlebt. Ihre Blutwerte, die mittlerweile alle drei Monate getestet werden, sind glücklicherweise gut, aber sie kämpft mit einer Reihe von Langzeitfolgen.»
«Malin hat uns ganz am Anfang einmal versprochen, dass sie kämpfen wird. Und das hat sie getan. Sie hat dabei nie mit ihrem Schicksal gehadert, obwohl sie weiss Gott Grund genug dazu gehabt hätte mit ihren vielen unerwarteten und schweren Komplikationen. In den ersten Wochen im Spital war Schule noch ein Thema, weil sie das Gefühl hatte, zu viel zu verpassen. Bald aber hat sie realisiert, dass die Kraft dazu nicht mehr reicht. Es vergingen zehn Monate, bis Malin zum ersten Mal wieder stundenweise in die Schule gehen durfte. Weil sie fast ein Jahr verpasst hatte, musste sie eine Klasse wiederholen. Das war hart für sie, denn sie musste ihre langjährigen Freundinnen verlassen und sich in einer neuen Klasse wieder zurechtfinden. Auch jetzt fehlt sie noch oft an der Schule aufgrund von Nachsorgekontrollen, Therapien oder stationären Spitalaufenthalten wegen der Spätfolgen. Malin will die Matura machen und holt Verpasstes mit eisernem Willen jedes Mal nach. Schulleitung, Lehrerschaft und ihre Schulkameraden sind sehr verständnisvoll und unterstützen sie, wo es geht. Das ist sehr hilfreich.»
«Die Chemotherapie dauerte zwei Jahre. In den ersten zwölf Monaten haben mein Mann und ich uns abgewechselt, um rund um die Uhr bei Malin im Spital oder zu Hause zu sein. Wir sind ständig zwischen unserem Zuhause, dem Spital und dem Arbeitsort hin- und hergependelt. Ich habe mein Arbeitspensum sofort längerfristig auf ein Minimum reduzieren können. Andernfalls hätte ich kündigen müssen. So hatten wir zumindest zusammen ein Einkommen. Auch die Grosseltern waren uns eine enorme Hilfe, vor allem bei der Betreuung von Malins Geschwistern während der Spitalzeiten. Es war ein grosser Spagat zwischen Malin und ihren gesunden, sportbegeisterten Geschwistern und entsprechend nicht immer einfach, allen dreien gerecht zu werden. Und wir mussten lernen, mit der Angst um Malin umzugehen. Das Schlimmste für Eltern ist, zusehen zu müssen, wie das eigene Kind so sehr leidet und kämpft, ohne ihm helfen zu können. Das tut ganz besonders weh.»
«Wir hatten das grosse Glück ein soziales Umfeld zu haben, das uns auf vielerlei Art sehr unterstützt hat. Dafür sind wir sehr dankbar. Mein Onkel hat uns beispielsweise ein Auto zur Verfügung gestellt. Wir wohnen auf dem Land, Malin war oft so geschwächt, dass sie unmöglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Spital konnte. Dieses zusätzliche Fahrzeug hat uns im Therapiealltag vieles erleichtert. Obwohl mein Mann und ich uns manchmal länger nicht gesehen haben, waren wir im ständigen Austausch, haben viel telefoniert. Und wann immer möglich, spazierten wir zusammen eine kurze Runde im Grünen, auch bei Regen, Schnee und Wind. Diese Gespräche waren wichtig, sie gaben uns Kraft und das Gefühl, es gemeinsam schaffen zu können, trotz der vielen Rückschläge. Wir haben stets versucht, positiv zu bleiben und nach vorne zu schauen, auch für Malin und ihre Geschwister. Weil es uns sehr am Herzen lag, dass ihr Bruder und ihre Schwester nicht zu kurz kommen, haben wir immer versucht, kurze aber intensive Momente des Zusammenseins mit ihnen zu schaffen.»
«Wenn ein Kind so schwer erkrankt, steht die Welt still, man fühlt sich wie in einer Blase und kämpft sich als Familie gemeinsam durch und funktioniert irgendwie. Es braucht viel Kraft, die man manchmal einfach nicht hat. Wir hätten uns eine Art «Helpline» gewünscht, eine Nummer, bei der wir uns hätten melden können, ganz egal wofür. Sei es für eine Mahlzeit bei zeitlichen Engpässen, für einen Fahrdienst, bei Unklarheiten bezüglich Versicherungen, bei finanziellen oder medizinischen Fragen, für psychologische Unterstützung, für die Nachsorge, für Beratungen, für die Betreuung der Geschwister oder sonstige Fragen, Anliegen und Unsicherheiten. Eine solche konkrete erste Anlaufstelle könnte alle Eltern mit einem krebskranken Kind möglichst unkompliziert und in den unterschiedlichsten Bereichen entlasten. Wünschenswert wäre auch eine bessere Unterstützung seitens der Invalidenversicherung und der Krankenkassen. In unserem Fall werden Anträge, Gesuche und Kostengutsprachen oft zunächst abgelehnt, dann müssen wir immer wieder Einsprachen machen. Das ist sehr zermürbend und oft hat man keine Energie zum Kämpfen mehr, weil man eigentlich seine ganze Kraft für das kranke Kind benötigt.»