«Der Einsatz eines innovativen Medikaments kann über Leben und Tod entscheiden»
Interview mit Dr. med. Pierluigi Brazzola, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderonkologe und Leiter der Abteilung Pädiatrie/Hämatologie am Istituto Ospedaliere della Svizzera Italiana, Bellinzona
Dr. Brazzola, circa 90 Prozent aller Medikamente, mit denen krebskranke Kinder behandelt werden, stehen nicht auf der sogenannten Spezialitätenliste. Damit die Therapiekosten übernommen werden, muss beim Versicherer ein Kostengutsprachegesuch gestellt werden. Was bedeutet das in der Praxis?
Krebs bei Kindern und Jugendlichen ist anders als bei Erwachsenen. Die Krankheit ist nicht nur seltener, sondern sie ist auch aggressiver. Deshalb müssen wir unverzüglich mit der Behandlung unserer Patienten beginnen, sobald die Diagnose feststeht. Auch wenn wir wissen, dass wir einen Antrag auf Kostenübernahme stellen müssen, bleibt uns oft keine Zeit, eine Antwort abzuwarten. Einige der Medikamente, die wir für die Behandlung von Leukämien einsetzen, fallen in diese Kategorie. Dazu muss man wissen, dass Leukämien die häufigste Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter sind. Der Zeitaufwand für diese Verwaltungsverfahren ist somit beträchtlich. Hinzu kommt, dass nicht alle Versicherer auf die gleiche Weise und innerhalb des gleichen Zeitrahmens reagieren.
Die meisten Kinder werden mit Standardtherapien behandelt, die sich seit Jahrzehnten bewährt haben. Wie lässt sich erklären, dass Kostengutsprachen nicht immer erfolgreich sind?
Die Versicherer und ihre Vertrauensärzte beurteilen die Anträge manchmal nach festgelegten Kriterien, die nicht immer zu erfüllen sind. In einigen Fällen ist es auch schwierig nachzuweisen, warum wir ein bestimmtes Arzneimittel in einer kindgerechten Darreichungsform verschreiben. Aber weil ein Säugling oder ein Kleinkind im Gegensatz zu einem Erwachsenen Tabletten nicht oder nur sehr schlecht schlucken kann, entscheiden wir uns für ein vielleicht etwas teureres Medikament in Sirup- statt Tablettenform. Kinder haben andere Bedürfnisse als Erwachsene und es gilt, darauf Rücksicht zu nehmen. Bestimmte Entscheidungen der Versicherer sollten deshalb nicht einzig unter dem Gesichtspunkt der Kosten, der Wirksamkeit und der Nachhaltigkeit getroffen werden. Gerade bei schutzbedürftigen Patienten wie Kindern sollte auch die Praktikabilität im Fokus stehen.
Wie sieht es bei Zusatztherapien aus, die dazu dienen, lebensgefährliche Infektionen zu verhindern oder die Lebensqualität der kleinen Patienten zu erhöhen?
Selbst bei den Zusatztherapien kann es Probleme bei der Kostenübernahme geben. Die sogenannten supportiven Therapien umfassen Medikamente gegen Übelkeit, Schmerzen oder Infektionen und sind während der Behandlung sehr wichtig für unsere Patienten. Es kann zum Beispiel sein, dass die Krankenkasse oder die IV Kosten nicht übernimmt, wenn ein Medikament in einer bestimmten Darreichungsform, wie Sirup, in der Schweiz nicht erhältlich ist und deshalb aus dem Ausland importiert werden muss. Die Voraussetzung für eine Zusage wäre, dass wir eine bessere Wirksamkeit oder niedrigere Kosten nachweisen könnten. Offensichtlich reicht in diesen Fällen der gesunde Menschenverstand nicht aus, um zu erkennen, dass es für ein zweijähriges Kind einfacher ist, einen Sirup als eine Tablette einzunehmen.
Innovative Krebstherapien können vielversprechende Alternativen sein, wenn die Erstbehandlung nicht anschlägt oder wenn der Krebs zurückkommt. Wie sieht die Situation bei diesen neueren und teureren Medikamenten aus?
Bis vor einigen Jahren war es sehr schwierig, für verschiedene kindliche Tumorarten eine Alternative zu finden, wenn sie wieder auftraten. Heute macht die Forschung in der Kinderheilkunde glücklicherweise auch auf diesem Gebiet rasante Fortschritte. In manchen Situationen kann der Einsatz eines innovativen Medikaments über Leben und Tod eines Kindes entscheiden. Oder darüber, ob unsere Patienten unter weniger Nebenwirkungen und Langzeitfolgen leiden müssen als bei einer Standardtherapie. Wenn wir Kinder behandeln, dürfen wir nicht vergessen, dass sie noch viele Lebensjahre vor sich haben. Die Frage nach der Lebensqualität ist deshalb ein weiterer Faktor bei der Therapiewahl. Auch ein geringeres Risiko, in Zukunft gesundheitliche Probleme zu entwickeln, kann somit entscheidend sein.
Was geschieht, wenn in diesen Fällen ein Kostengesuch vom Vertrauensarzt der Krankenkasse abgelehnt wurde? Wer bezahlt dann für die lebensrettende Therapie?
Bei Absagen fragen wir in der Regel mehrmals beim Versicherer nach. Wir wollen die genauen Gründe wissen, um dementsprechend reagieren zu können. Wir versuchen Argumente und Beweise zu finden, die den Vertrauensarzt oder die Vertrauensärztin vom Nutzen überzeugen. Diese sind allerdings in der Regel keine Kinderonkologen. Sie verfügen also häufig nicht über das notwendige Spezialwissen. Bleibt es bei einer Absage, nehmen wir Kontakt mit dem Hersteller des Medikamentes und mit Stiftungen auf, um alternative Lösungen zu finden. Das alles braucht sehr viel Zeit, aber wir versuchen alles, um zu verhindern, dass die Kosten dieser Therapie auf die Eltern abgewälzt werden.
Wie sehr belasten Einsprachen und unnötige Bürokratie die Ärzte und die Eltern?
Für uns Ärzte ist es vor allem ein grosser Aufwand an Zeit und Energie, die für diese Anträge verloren geht. Aber für die betroffenen Eltern ist die aktuelle Situation ein Grund zur Verzweiflung. Sie verstehen logischerweise nicht, warum Therapien, die ihrem Kind das Leben retten könnten, unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten evaluiert werden. Wir Kinderonkologen versuchen stets, die Krankheit beim ersten Versuch zu heilen. Denn bei einem Rückfall gibt es nicht immer wirksame Therapien. Deshalb muss jede noch so kleine Verbesserung der Heilungschancen genutzt werden. Eltern wissen das. Der Gedanke, dass ihrem Kind der Zugang zu einer Therapie versperrt bleibt, weil die Krankenversicherung oder die IV die Rückerstattung nicht übernimmt, ist extrem belastend. Vor allem dann, wenn sie nicht über ausreichend finanzielle Ressourcen verfügen, um im Notfall für die Therapiekosten selbst aufzukommen.
Was könnte aus Ihrer Sicht ein mögliches Lösungsszenario bei der Beurteilung von strittigen Fällen sein?
Wir Kinderonkologen sind verpflichtet, uns strikt an die Vorgaben internationaler, standardisierter Behandlungsprotokolle zu halten. Diese haben sich seit Jahrzehnten bewährt und ermöglichen es, auch in der Schweiz höchste Behandlungsstandards einzuhalten. Keine Therapie geht auf die Initiative eines einzelnen Arztes zurück. Das sollte eigentlich Beweis genug dafür sein, dass unsere Vorschläge bereits auf ihre Wirksamkeit hin überprüft wurden. Komplexe Erkrankungen erörtern wir zudem im Einzelfall in einer internationalen Expertengruppe, wo nach sorgfältiger Prüfung dann ein Konsens über das weitere Vorgehen erzielt wird.
In strittigen Fällen, wenn der Versicherer eine Kostenübernahme aufgrund der vertrauensärztlichen Empfehlung ablehnt, bräuchte es ein unabhängiges Expertengremium. Dieses müsste aus Fachspezialisten aus dem Bereich der Kinderonkologie bestehen und sollte befähigt sein, eine für beide Parteien verbindliche Stellungnahme abzugeben. Leider gibt es derzeit keine solche Instanz.
Neu will der Bundesrat auch einen Nachweis bei neueren Medikamenten, dass diese im Vergleich zu Standardtherapien einen 35-prozentigen Mehrwert aufweisen. Als Beweisgrundlage sollen klinische Studien dienen. Wie beurteilen sie diese Forderung?
Kaum ein neues Medikament wird diese Forderung erfüllen können. Die in den letzten 40 Jahren in der Kinderkrebsmedizin erzielten Fortschritte haben manchmal diesen Schwellenwert erreicht. Aber nur auf langsame und kontinuierliche Art und Weise. Keine Therapie hat jemals im Alleingang und schnell zu diesen Erfolgen geführt. Wie bereits erwähnt, geht es in der Kinderonkologie nicht nur um bessere Heilungschancen, sondern auch um die Verringerung potenzieller Langzeitnebenwirkungen. Heute riskieren drei von vier Patienten langfristige Komplikationen. Eine unserer grössten Herausforderungen ist deshalb zu heilen und gleichzeitig Langzeitfolgen zu minimieren. Dieser Aspekt fehlt zum Beispiel bei der Behandlung von erwachsenen Krebspatienten fast völlig. Die vorgeschlagenen Änderungen bringen keine wirklichen Vorteile. Vielmehr besteht die reale Gefahr, dass sich der Zugang zu notwendigen Therapien für unsere Patienten weiter verschärft.
Wie sähe für Sie die ideale Lösung aus, damit krebskranke Kinder und Jugendliche auch in Zukunft einen Zugang zu den bestmöglichen Therapien behalten?
Da Kinderkrebs zu den seltenen Krankheiten gehört, sind die Fallzahlen in der Schweiz gering. Die rund 350 Kinder und Jugendlichen, die hierzulande jährlich an Krebs erkranken, müssen schweizweit nach streng vorgegebenen internationalen Studienprotokollen behandelt werden. Diese wurden vorher von Swissmedic genehmigt und von Schweizer Ethik-Kommissionen überprüft. Ihr grosser therapeutischer Nutzen wurde offiziell also bereits anerkannt. Es wäre deshalb wünschenswert, dass alle Medikamente, welche die Standardtherapien zwingend vorgeben, automatisch von den Versicherern rückerstattet werden. Ebenfalls wichtig wäre eine verbesserte Kostenübernahme bei den Zusatztherapien. Ein unabhängiges Expertengremium aus dem Bereich der Kinderonkologie könnte, wie bereits erwähnt, in strittigen Fällen, eine für alle Parteien verbindliche Entscheidung fällen. Ein entsprechendes Pilotprojekt bei Erwachsenen wurde bereits durchgeführt und hat sehr ermutigende Ergebnisse erbracht. Da muss unbedingt noch mehr geschehen.