«Mit so einer schlimmen Diagnose rechnet man nicht»
Interview mit Gabi Pross, betroffene Mutter
Als Laura knapp zwei Jahre alt ist, stellen die Ärzte bei ihr einen äusserst aggressiven Hirntumor fest. Sie wird notfallmässig operiert, erhält Bestrahlungen und Chemotherapien. Ihre Heilungschancen sind sehr gering, aber Laura überlebt. Heute ist sie fünfeinhalb Jahre alt und ein fröhliches Kindergartenkind, auch wenn sie mit leichten Einschränkungen zu kämpfen hat. Ihre Eltern sind überglücklich, dass sie die schlimme Krankheit besiegt hat. Geblieben ist die Angst, dass vielleicht weitere Spätfolgen auftreten und dass der Krebs zurückkommen könnte. Auch deshalb setzen die Eltern viel Hoffnung in die Kinderkrebsforschung.
Frau Pross, als Laura 20 Monate alt ist, wird bei ihr ein äussert aggressiver Hirntumor diagnostiziert. Was genau ist damals passiert?
Wir waren gerade in den Familienferien, als Laura anfing, sich immer wieder zu übergeben, ihr war übel, und sie hat kaum noch etwas gegessen. Obwohl sie zu dem Zeitpunkt motorisch wie auch sprachlich für ihr Alter sehr weit war, ist sie ständig hingefallen und wollte nicht mehr laufen. Eine erste Abklärung im Kinderspital hat nichts ergeben. Sie hat immer mehr Gewicht verloren und litt unter Fieberschüben. Es folgten einige Konsultationen, ohne dass die Ursache gefunden wurde. Schliesslich sollte ein MRI* gemacht werden, aber kurz vor dem Termin ging es Laura plötzlich so schlecht, dass ich sie notfallmässig ins Kinderspital gebracht habe. Eine sofortige Untersuchung im MRI hat gezeigt, dass Laura einen bösartigen Hirntumor hat und so rasch als möglich operiert werden muss. Mit so einer schlimmen Diagnose rechnet man nicht, das war ein Riesenschock für uns. Durch einen neuartigen Gentest des Tumors konnten die Ärzte feststellen, dass es sich bei Lauras Hirntumor nicht – wie zuerst vermutet – um ein Medulloblastom, sondern um eine andere seltene und äusserst bösartige Krebsart handelte. Wir waren verzweifelt und wussten nicht, ob Laura überleben würde, denn die Prognose war mit 10 – 20 Prozent denkbar schlecht. Aber sie hat es geschafft, wahrscheinlich nur dank der gezielteren Therapie, die dieser Gentest erst ermöglicht hatte. Wir sind unendlich dankbar, dass unsere Tochter überlebt hat.
Wie ging es weiter, nachdem der Tumor operativ entfernt worden war?
In den ersten dreieinhalb Wochen nach der Operation hat sie keinerlei Gefühlsregung mehr gezeigt, nicht gesprochen und sich kaum bewegt. Die Ärzte haben uns erklärt, es handle sich dabei um das sogenannte Posterior Fossa Syndrom. Ob sie sich gefreut hat, wenn wir bei ihr waren oder wenn die Grosseltern sie im Spital besucht haben, war einzig anhand ihrer Pulsfrequenz auf dem Monitor erkennbar. Das war natürlich sehr belastend für uns, weil wir nicht wussten, welche bleibenden Schäden durch die Operation am Gehirn und die darauffolgenden Behandlungen zurückbleiben würden. Eines Tages hat Laura plötzlich wieder gelächelt. Sie musste alles von neuem lernen: den Kopf heben, sitzen, reden und die richtigen Wörter finden. Es hat ein Jahr gedauert, bis sie wieder ohne Hilfsmittel laufen konnte. Insgesamt war Laura zehn Monate lang stationär und danach phasenweise für die ambulante Chemotherapie im Kinderspital. In dieser Zeit ist auch ihre Schwester Gianna auf die Welt gekommen. Sie hat Laura mit ihrer Lebendigkeit und ihrem «Da-Sein» über viele schwierige Momente während der Chemotherapie hinweggeholfen und war quasi ihre einzige Spielgefährtin im Spital. Später mussten wir sechs Wochen lang fast täglich in das rund 120 Kilometer entfernte Paul Scherrer Institut nach Villigen fahren. Dort bekam Laura eine Bestrahlung des Gehirns mittels Protonentherapie, um die Spätfolgen, die durch eine normale Schädelbestrahlung entstehen können, möglichst gering zu halten. Glücklicherweise haben uns beide Grosseltern in dieser intensiven und anstrengenden Zeit sehr unterstützt. Alleine wäre das noch schwerer zu schaffen gewesen.
Jetzt ist Laura fünfeinhalb, wie geht es ihr heute?
Sie ist ein sehr quirliges und fröhliches Kind. Glücklicherweise hat sie keine kognitiven Einschränkungen, sie ist aufgeweckt, spricht normal und kann schon ein bisschen rechnen und schreiben. Es sind vor allem die feinmotorische Tätigkeiten wie das Schreiben, Zeichnen oder Malen, die ihr schwer fallen. Um ihre Motorik zu verbessern, erhält sie seit dem Spital Ergo- und Physiotherapie, die von der Invalidenversicherung bezahlt werden. Und sie geht – auf unsere Kosten – in eine anerkannte heilpädagogische Reittherapie. Diese Rehabilitationsmassnahmen sind sehr wichtig und Laura hat enorme Fortschritte gemacht. Weil sie aber immer noch Gleichgewichtstörungen hat, fällt sie oft hin und verletzt sich dabei. Sie hat viele blaue Flecken, ist aber hart im Nehmen und hadert kaum mit ihrem Schicksal. Für Aussenstehende wirkt sie meistens einfach tollpatschig. Seit letztem Sommer geht Laura nun in den Kindergarten und das klappt alles sehr gut. Wir erhalten dort unglaublich viel Unterstützung. Weil sie eben mehr Aufmerksamkeit und Hilfe als gleichaltrige Kinder braucht, war es uns immer wichtig, sehr offen über ihre Krankheit und die Folgen zu sprechen. Die Lehrpersonen gehen sehr flexibel auf ihre Spezialbedürfnisse ein und auch das Kinderspital unterstützt uns. So kam neulich ein Kinderonkologe in Lauras Gruppe und hat den Kindern erklärt, was ein Hirntumor ist und unter welchen Spätfolgen Kinder wie Laura leiden können. Jetzt verstehen ihre Gspänli besser, warum sie zum Beispiel so oft umfällt und gehen verständnisvoller mit ihrer «Tollpatschigkeit» um.
Wie stark beschäftigt Sie das Thema „Spätfolgen“?
Natürlich macht man sich als Eltern Gedanken über mögliche Spätfolgen oder darüber, dass der Krebs zurückkehren könnte. Laura muss alle vier Monate zur Kontrolluntersuchung ins Kinderspital. Die Nacht davor schlafe ich immer sehr schlecht vor Angst, dass die Ärzte erneut etwas finden könnten. Bei einem Rückfall hätte sie wohl kaum Überlebenschancen. Hinzu kommt das Risiko der unsichtbaren Spätfolgen, wie Organschäden oder Unfruchtbarkeit, die mir Sorgen machen. Ich weiss also nicht, was noch auf uns zukommen wird. Deshalb finde ich die Kinderkrebsforschung so wichtig. Da Lauras Hirntumor so selten und aggressiv war, haben sich die Ärzte – im Rahmen der klinische Studie, an der Laura teilgenommen hat – mit Kollegen aus dem Ausland intensiv ausgetauscht. Ich hoffe, dass die klinische Forschung noch mehr Fortschritte bei der Behandlung von Hirntumoren macht, damit Kinder wie meine Tochter noch bessere Chancen haben, zu überleben und weniger unter Spätfolgen leiden müssen. Was mich zudem beschäftigt, ist die Frage, wie es in Zukunft weitergeht, wenn Laura in die Schule kommt und die Zeit danach. Sie hat am ganzen Körper Narben von den Operationen und dem Port**, den sie tragen muss. Ich hoffe sehr, dass sie deshalb nicht irgendwann einmal diskriminiert werden wird. Aber Laura ist sehr selbstbewusst und weiss, was sie will. Im Moment ist ihr Zukunftswunsch «Mami und Chefin» zu werden.
Welche Auswirkungen hatte Lauras Erkrankung auf Sie und Ihre Familie?
Mir ist ganz stark bewusst geworden, wie endlich ein Menschenleben sein kann, auch bei einem kleinen Kind. Nach so einer Geschichte ist man nicht mehr der gleiche Mensch wie vorher, und auch das Kind ist nicht mehr dasselbe. Die Situation war emotional anstrengend und ich immer wieder an die Grenzen meiner Belastbarkeit geraten. Die Gefahr, dabei in eine Depression abzurutschen, ist gross. Oft bleibt im Alltag nur sehr wenig Energie für anderes übrig, sei es für den Rest der Familie, den Haushalt oder die ganzen administrativen Dinge, um die man sich aufgrund der Krankheit kümmern muss. Wir hatten Glück und haben viel Unterstützung durch die Grosseltern, das Personal im Kinderspital und auch jetzt im Kindergarten erhalten. Andere Eltern haben das vielleicht nicht und fühlen sich alleine gelassen. Ich für mich habe gelernt, Dinge zu relativieren, mich auf die wirklich wichtigen Dinge zu fokussieren und auch zu kämpfen. Weil so eine Krankheit die ganze Familie betrifft, hat sie natürlich auch Auswirkungen auf die Geschwister. Bei uns kommt Gianna oft zu kurz und fühlt sich deshalb benachteiligt, auch wenn sie und ihre grosse Schwester durch die gemeinsame Spitalzeit ein sehr enges Verhältnis zueinander haben. In den schwierigen Momenten geben mir meine Familie, die Natur und der Austausch mit Eltern, die in einer ähnlichen Situation sind, viel Energie und Kraft. Mein grösster Wunsch ist, dass Laura und ihre Schwestern für immer gesund bleiben und wir alle wieder unbeschwerter durchs Leben gehen können.
* Magnetresonanztomographie für Schnittbildaufnahmen vom Kopf
** ein dauerhafter, unter der Haut liegender Venenzugang für Therapien (Anmerkungen der Redaktion)