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«Unser Sozialsystem hat leider Lücken»

Interview mit Jeannette Tornare, betroffene Mutter und Generalsekretärin der ARFEC

Interview mit Jeannette Tornare

ARFEC, die Westschweizer Vereinigung von Familien mit einem krebskranken Kind, wurde vor über 35 Jahren von Eltern gegründet, um sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Jeannette Tornare ist die Generalsekretärin der ARFEC und selbst betroffene Mutter. Mit ihrer Erfahrung hilft sie anderen Eltern, die schwierige Zeit während und nach der Behandlung besser zu meistern.

Frau Tornare, die Krebsdiagnose bei einem Kind trifft immer auch die ganze Familie. Vor welchen Herausforderungen stehen die Betroffenen?

Zunächst steht die Angst um das Kind im Vordergrund. Ziemlich rasch kommen jedoch konkrete logistische und administrative Herausforderungen auf die Eltern auf. Diese reichen von der Neuorganisation des Alltags und der Geschwisterkinderbetreuung bis hin zu beruflichen und finanziellen Problemen. Die Krankheit stellt das Leben der betroffenen Familien von einem Moment auf den anderen radikal auf den Kopf. Alles muss quasi über Nacht komplett neu organisiert werden. Viele Eltern fragen sich zu Recht, wie sie all das unter einen Hut bringen sollen. Leider können nicht alle Familien auf ein persönliches Netzwerk zurückgreifen, das sie unterstützt und emotional trägt, und nicht alle verfügen über die notwendigen Ressourcen, um auf Dauer auch finanziell bestehen zu können. Umso wichtiger ist deshalb die Hilfe von aussen. Als Selbsthilfeorganisation kennen wir die unterschiedlichen Bedürfnisse und wissen aus Erfahrung, dass gestärkte Eltern ihrem Kind besser durch die schwere Zeit der Therapie helfen können.

 

Ihre Tochter erkrankte 2010 an Krebs. Was hat Ihnen als Familie in dieser schwierigen Zeit geholfen?

Ich hatte das grosse Glück, einen sehr verständnisvollen Arbeitgeber zu haben und ein Umfeld, das meine Familie intensiv unterstützt hat. Dadurch konnte ich meine Arbeitszeiten flexibel an den Gesundheitszustand meiner Tochter anpassen und gleichzeitig den Kopf wenigstens für ein paar Stunden freibekommen. Das hat mir sehr geholfen. Da ich meinen Halbtagsjob behalten und mein Mann zu 100 Prozent weiterarbeiten konnte, kamen wir finanziell weiterhin gut über die Runden. Zudem erhielten wir viel Hilfe aus unserem persönlichen Umfeld. Meine Nachbarin kümmerte sich sehr engagiert um die beiden Geschwisterkinder und meine Mutter reiste an, um uns im Haushalt zu entlasten. Dank dieser umfangreichen Unterstützung gelang es uns, die schwierige Zeit einigermassen gut zu überstehen. Aufgrund meiner Erfahrung bei der ARFEC weiss ich jedoch, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Es gibt genügend Eltern, bei denen der Arbeitgeber kaum oder kein Verständnis zeigt, und das soziale Umfeld, seien es Verwandte, Freunde oder Bekannte, wenig präsent ist. Dann kann sich die Situation relativ schnell zuspitzen und die betroffenen Familien benötigen möglichst rasch und unkompliziert Unterstützung.    

 

Ihre Organisation leistet auch finanzielle Direkthilfe. Warum ist das wichtig?

Aufgrund der Krankheit sind die Familien plötzlich mit Mehrkosten konfrontiert, die zumeist nicht von der Sozial- oder Invalidenversicherung übernommen werden. Die Behandlung kann Monate bis Jahre dauern und findet an spezialisierten Kinderspitälern statt, die zumeist weit vom Wohnort der Familien entfernt sind. In dieser Zeit pendeln die Eltern ständig zwischen Spital und dem Zuhause hin und her, zumindest in der Intensivphase. Später kann das Kind vielleicht ambulant betreut werden, muss aber immer wieder zurück ins Spital, wenn sich sein Gesundheitszustand plötzlich verschlechtert. Öffentliche Verkehrsmittel sind in der Regel keine Option, weil es den betroffenen Kindern zu schlecht geht oder ihre Immunabwehr zu schwach ist. Vielleicht müssen zuhause auch noch die kleineren Geschwisterkinder betreut werden. Auf diese Weise können allein für Parkieren, Verpflegung und Übernachtung rasch monatliche Zusatzkosten von über 2000 Franken entstehen. Das sind hohe Summen, die manche Familien rasch in eine finanzielle Notlage bringen. Wir helfen, wo wir können, aber auch unsere Budgets sind leider begrenzt.

 

Was kann das Umfeld dazu beitragen, um die betroffene Familien zu entlasten?

Das können häufig ganz kleine Dinge und Gesten sein. Zum Beispiel Einkaufen gehen, Mahlzeiten zubereiten, Wäsche waschen, den Rasen mähen und vieles mehr. Oder anbieten, sich um die Geschwisterkinder zu kümmern, weil diese mitleiden und häufig zu kurzkommen. Manchmal reicht auch einfach zuzuhören, wenn es gerade besonders schwierig ist und langfristig präsent zu bleiben. Was den Betroffenen am meisten hilft, sind konkrete Hilfsangebote und nicht offene Fragen, im Sinne von «Was kann ich tun?». Deshalb überlegt man sich am besten im Vorfeld, was Sinn machen würde und geht mit diesem Vorschlag auf die Eltern zu. Ein weiteres Thema für die Familien ist die schulische Situation. Viele machen sich Sorgen, dass ihr Kind den Anschluss an den Schulstoff und an seine Klassenkameraden verliert. Mehr Online- und Hybridunterricht würden hier Abhilfe schaffen und dafür sorgen, dass krebsbetroffene Kinder weniger unter der Einsamkeit leiden. Und schliesslich bleibt nach wie vor die Frage nach der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Mehr Offenheit und Lösungsansätze in Bezug auf flexiblere Arbeitszeitmodelle würden beides möglich machen und verhindern, dass Familien neben der Angst um das erkrankte Kind auch noch mit dem Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage kämpfen müssen.

 

Was müsste sich insgesamt ändern, damit die betroffenen Familien besser durch diese Krise kommen?

Wenn ein Kind an Krebs erkrankt, müssen die Eltern nicht nur die Krankheit, sondern auch die hohen Mehrkosten bewältigen. Das fällt vielen schwer. Denn, während die Ausgaben ansteigen, sinkt parallel dazu das Haushaltseinkommen. Der bezahlte vierzehnwöchige Betreuungsurlaub ist wichtig und gut. Für Familien mit einem ohnehin knappen Budget reicht die Entschädigung in Höhe von 80 Prozent des durchschnittlichen Erwerbseinkommens jedoch meistens nicht. Somit können die fehlenden 20 Prozent schnell existenzbedrohend werden. Die Therapie einer Leukämie zum Beispiel dauert bis zu zwei Jahren. Das Gesetz gesteht Eltern eines schwer kranken Kindes aber nur 14 Wochen Betreuungsurlaub zu. Wie soll das gehen? Unser Sozialsystem hat leider Lücken, weshalb Familien mit einem krebskranken Kind häufig sich selbst überlassen werden. In der Schweiz sind es private Träger, Stiftungen und Vereine wie die ARFEC, die einspringen, wenn die Kranken- oder Invalidenversicherung nicht zahlt. Damit Familien in Not aber flächendeckend Unterstützung erhalten, bräuchte es unbedingt ein grösseres sozialpolitisches Engagement seitens des Bundes.

 

Die ARFEC begleitet und unterstützt Familien mit einem krebskranken Kind. Was genau bedeutet das?

Wir leisten zum Beispiel finanzielle Direkthilfe an den krankheitsbedingten Ausgaben, wenn Eltern diese nicht alleine stemmen können. Wir organisieren Freizeitaktivitäten und Verschnaufpausen, damit Väter, Mütter, betroffene Kinder und ihre Geschwister auf andere Gedanken kommen und sich erholen können. Und wir sind für die Betroffenen da, wann immer sie Hilfe und ein offenes Ohr benötigen – sei es während der Behandlung, in der Zeit danach oder auch im schlimmsten Fall, wenn ein Kind verstirbt. Bei uns können die Eltern ihre Erfahrungen mit Menschen teilen, die sie verstehen, sich offen untereinander austauschen, zusammen lachen, manchmal auch weinen und sich mit anderen Familien vernetzen, um sich nicht mehr isoliert und alleine zu fühlen.

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