«Es fehlen adäquate Ausbildungsangebote für Survivors»
Interview mit Andrea Kurzo, Fachpsychologin
Andrea Kurzo ist Psychologin und auf die Betreuung von krebskranken Kindern und Jugendlichen spezialisiert. Sie arbeitet am Inselspital Bern und begleitet Betroffene und ihre Eltern während und nach der Erkrankung.
Frau Kurzo, am Inselspital Bern gehört die psychosoziale Betreuung fest zum Nachsorgeangebot für ehemalige Kinderkrebspatienten. Warum kommen insbesondere Hirntumor-Survivors in Ihre Sprechstunde?
Kinder und Jugendliche, die an einem Hirntumor erkranken, kämpfen leider am häufigsten mit gravierenden Spätfolgen. Das führt dazu, dass sie es besonders schwer haben, eine gute Ausbildung zu finden, diese erfolgreich abzuschliessen und später einmal auf eigenen Beinen zu stehen. Dazu muss man wissen, dass Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, eine verminderte Arbeitsgeschwindigkeit sowie Problemlösungskompetenz zu den häufigsten Spätfolgen bei Hirntumoren gehören. Hinzu kommt das Fatigue-Syndrom, was dazu führt, dass sie körperlich als auch geistig schneller erschöpft und dadurch weniger belastbar sind. Diese Spätfolgen können auch Kinderkrebspatienten mit anderen Tumorarten betreffen und deren Bildungsweg beinträchtigen, bei ehemaligen Hirntumorpatienten braucht es jedoch besonders viel Unterstützung. Dieses Bedürfnis versuchen wir im Rahmen unserer Nachsorgesprechstunden aufzufangen.
Bei manchen Kinderkrebs-Survivors gestaltet sich der Übergang von der Schule in die Ausbildung als problematisch. Warum ist das so?
Je nach Alter bei Krankheitsbeginn und Ende der Therapie beginnen die Probleme bereits in der Schule. Dort gibt es jedoch mehr Unterstützungsmöglichkeiten, wie Nachteilsausgleich, Sonderbeschulung und einiges mehr. Das macht es einfacher, trotz der Einschränkungen einen Abschluss zu machen. Spätestens dann jedoch, wenn es um die Ausbildung geht, kann es schwieriger werden, weil die Anforderungen steigen. Als Lehrling ist man zum Beispiel mit langen Arbeitszeiten oder zeitaufwendigem Pendeln konfrontiert, als Studentin sind eigenständiges und strukturiertes Arbeiten gefordert. Das sind alles Dinge, die auch für andere junge Menschen in Ausbildung nicht immer einfach sind. Für Survivors jedoch kann die Belastung schnell zu gross werden. Damit ihre Integration besser gelingen kann, bräuchten sie eigentlich mehr Zeit und Entlastung im Alltag. Hinzu kommt, dass sie durch diese extremen Erschöpfungszustände auch häufig in ihrer sozialen Entwicklung ins Hintertreffen kommen. Statt auszugehen und Freunde zu treffen, benötigen sie mehr Erholungspausen als Gleichaltrige. Das kann sich negativ auf Freundschaften und Liebesbeziehungen auswirken und wiederum psychosoziale Spätfolgen auslösen.
Hirntumor-Survivors kämpfen aufgrund der Spätfolgen mit besonders grossen Herausforderungen. Was macht es besonders schwierig für sie?
Der Leidensdruck für ehemalige Hirntumorpatienten ist gross, weil es für sie in beruflicher Hinsicht kaum gute Integrationslösungen gibt. Die meisten meiner Patienten sind zwar in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt, haben Mühe, sich zu strukturieren, sind vielleicht langsamer und ermüden viel schneller, aber ihre Intelligenz ist intakt. Wenn sie dann mit 17 oder 20 realisieren, dass sie keine Lehrstelle finden oder ihr Studium abbrechen müssen und vielleicht ihr ganzes Leben auf eine Invalidenrente angewiesen sein werden, ist die Not sehr gross. Sie kämpfen teils mit Existenzängsten und die Gefahr besteht, dass sie an Depressionen erkranken. Viele stellen sich auch die Sinnfrage: «Wozu habe ich überhaupt überlebt, wenn ich jetzt nicht mehr weiterkomme?» Hier braucht es nicht nur eine gezielte psychosoziale Nachsorge, wie wir sie bereits anbieten, sondern auch berufliche Perspektiven, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Das würde es ihnen die Gewissheit geben, dass auch sie, so wie sie sind, einen Platz in unserer Gesellschaft haben.
Für Menschen mit Behinderungen gibt es die Invalidenversicherung (IV). Wie schätzen Sie deren Unterstützungsangebote bei der beruflichen Integration ein?
Zunächst muss man wissen, dass ein Invalidenausweis nicht automatisch das Recht auf berufliche Unterstützungsmassnahmen durch die IV bedeutet. Dies gilt auch für ehemalige Hirntumorpatienten, deren Erkrankung als Geburtsgebrechen eingestuft wird. Wer also zum Beispiel bei der Erstausbildung Unterstützung benötigt, sollte diese frühzeitig bei der IV beantragen. Sie überprüft dann den Schweregrad der Behinderung und entscheidet anschliessend über die Eingliederungsmassnahmen. Bei Survivors mit kognitiven und/oder körperlichen Einschränkungen, aber normaler Intelligenz, funktioniert die althergebrachte Kategorisierung in körperliche oder geistige Behinderung jedoch nicht mehr. Sie fallen durch die Maschen des Systems, weil die IV nicht auf diese Art der «neuen» Behinderungen eingestellt ist. Das kann zum Beispiel dazu führen, dass einem Kinderkrebs-Survivor als einzige Ausbildungsoption eine Lehre in einer geschützten Werkstatt für Menschen mit Behinderungen vorgeschlagen wird. Für die Betroffenen ist das jedoch verständlicherweise keine Lösung, weil sie mit dem, was sie können, dort am falschen Platz sind. Man müsste vielmehr genauer schauen, wo ihre Kompetenzen und wo ihre Defizite liegen. Adäquate Ausbildungsangebote für Survivors, die eine berufliche Integration erleichtern könnten, fehlen jedoch.
Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, damit eine Integration ins Berufsleben besser gelingen kann?
Ich denke, dass wir die Nachsorgeangebote in der Schweiz noch interdisziplinärer auslegen müssten, um dem grossen Bedürfnis nach Unterstützung bei der beruflichen Integration, gerecht zu werden. Andere Länder, wie zum Beispiel Deutschland, sind hier schon weiter. Dort gibt es Zentren, die zusätzlich zur medizinischen und psychosozialen Nachsorge auch Berufsberatungen und Arbeitscoaching für Kinderkrebs-Survivors anbieten. Bei uns sieht die Situation anders aus. Betroffene und Eltern beklagen immer wieder, dass sie sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlen und selbst eine Lösung finden müssen. Das überfordert viele und die Gefahr ist gross, dass eine Integration kurz- oder langfristig vielleicht nicht funktioniert. In manchen Fällen helfen auch wir mit und nehmen z.B. Kontakt mit der IV auf. Das gehört jedoch eigentlich nicht zu unseren Kernkompetenzen. Ich würde mir wünschen, dass es auch bei uns solche Angebote gibt, um gemeinsam mit den Betroffenen geeignete berufliche Perspektiven zu entwickeln und sie während der Ausbildung sowie im Beruf professionell zu begleiten. So liesse sich gewährleisten, dass Survivors eine reelle Chance erhalten, einen passenden Platz auf dem Arbeitsmarkt zu finden, um auf eigenen Beinen zu stehen und beträchtlich an Lebensqualität zu gewinnen.