Spätfolgen – ein breites Spektrum
Dank medizinischer Fortschritte überleben heutzutage vier von fünf Kindern und Jugendlichen ihre Krebserkrankung. Rund 80 Prozent der Betroffenen sind jedoch mit Spätfolgen konfrontiert. Diese können sowohl durch die Krankheit selbst, als auch durch die intensive Therapie verursacht werden, manchmal auch erst Jahrzehnte später auftreten und sich mit zunehmendem Alter verstärken. Die Art, Häufigkeit und Schwere der Spätfolgen werden von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst und können fast alle Organsysteme betreffen: Herz, Gehör, Lunge, Leber, Nieren, Geschlechtsorgane, Hormondrüsen, Nervensystem, Knochen und Muskulatur. Zu den physischen Folgen können auch psychische Probleme wie Ängste, Depressionen und posttraumatische Belastungssyndrome hinzukommen. Viele Betroffene leiden zudem unter chronischer Fatigue, sind deshalb körperlich sowie mental schneller erschöpft und dadurch weniger belastbar. Laut einer internationalen Studie haben Survivors ein beträchtliches Risiko, als Erwachsene von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein*. Kinder und Jugendliche mit einem Hirntumor sind besonders gefährdet. Das Spektrum der Spätfolgen ist somit sehr breit. Es reicht von körperlichen und psychosozialen bis hin zu wirtschaftlichen Folgen, wenn eine Integration in die Arbeitswelt nicht oder nur teilweise möglich ist. Die moderne Kinderkrebsmedizin zielt deshalb darauf ab, nicht nur die Krankheit möglichst erfolgreich zu behandeln, sondern auch die Spätfolgen so gering wie möglich zu halten.
«Ich wünsche mir konkrete Angebote und Massnahmen für den Einstieg ins Arbeitsleben»
Delia Mazuret, Survivorin
Herausforderungen in der Ausbildung und im Beruf
Die Suche nach einer Lehrstelle, die Wahl eines Studiums und der erfolgreiche Einstieg ins Berufsleben sind für junge Menschen grundlegende Schritte, um am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen zu können. In den entscheidenden Jahren der Selbstentwicklung von einer lebensbedrohlichen Krankheit wie Kinderkrebs betroffen zu sein, hinterlässt jedoch Spuren, die den Eintritt in die Arbeitswelt beeinflussen können. Je nach Schweregrad der Beeinträchtigungen sind Survivors mit unterschiedlich grossen Herausforderungen konfrontiert. Einige finden keine passende Lehre oder sind gezwungen, ihre Ausbildung abzubrechen. Andere wiederum steigen von sich aus mit einem reduzierten Pensum in den Beruf ein, weil mehr für sie nicht möglich ist. Häufig genannte Gründe hierfür sind körperliche Einschränkungen, chronische Fatigue, Konzentrationsschwierigkeiten, psychosoziale Probleme und eine geringere Belastbarkeit. Wenn eine 100-prozentige Leistung nicht oder nicht mehr möglich ist, müssen langgehegte Berufswünsche häufig aufgegeben und neue berufliche Perspektiven gesucht werden. Erwerbslosigkeit, Verlust des Selbstvertrauens, Abhängigkeit von der Familie sind nur einige der Risikofaktoren für psychische Probleme, die die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigen können. Auch wenn den meisten Survivors der Einstieg ins Berufsleben erfreulicherweise gelingt, zeigt die Erfahrung, dass ein Einbruch auch erst viele Jahre später kommen kann. Manche stehen dann bereits mitten im Berufsleben, haben vielleicht eine Familie gegründet und plötzlich lässt die Leistungsfähigkeit nach. Das kann dazu führen, dass ein bereits reduziertes Arbeitspensum weiter verringert werden muss oder eine Erwerbstätigkeit gar nicht mehr möglich ist. Wenn die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht frühzeitig bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet wurden, oder eine Teilrente zur Existenzsicherung nicht ausreicht, können Betroffenen in eine finanzielle und persönliche Notsituation geraten.
Expertenstimmen
«Es fehlen adäquate Ausbildungsangebote, die eine berufliche Integration erleichtern»
Andrea Kurzo, Fachpsychologin
«Es ist wichtig, die Betroffenen möglichst früh über die rechtlichen Aspekte zu informieren»
Martin Boltshauser von Procap
Wie die Integration gelingen kann: informieren, beraten und begleiten
Häufig sind Survivors und ihre Eltern nicht ausreichend über die rechtlichen Grundlagen im Zusammenhang mit der Krankheit informiert. Das Schweizer Sozialsystem ist komplex, und oft fühlen sich die Betroffenen überfordert und alleingelassen, wenn Probleme bei der beruflichen Integration auftauchen. Eine präventive, juristische Beratung und eine umfassende medizinische Abklärung vor Beginn der Ausbildung würden helfen, wichtige sozialversicherungsrechtliche Aspekte zu beachten und Fehlorientierungen in Bezug auf die Berufswahl zu vermeiden. Eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Defizite ist jedoch nur der erste Schritt. Wenn Spätfolgen vorhanden sind, gibt es viele Fragen, die es für Survivors bei einer Berufswahl zu berücksichtigen gilt: Welche beruflichen Möglichkeiten habe ich? Was kann und darf ich mir zutrauen? Wie belastbar bin ich? Kann ich meinen Berufswunsch trotz der Spätfolgen verwirklichen oder welche Alternativen gibt es? Survivors fallen häufig durch die Maschen des Systems. Entweder reicht ihre Leistungsfähigkeit nicht ganz für den ersten Arbeitsmarkt oder sie sind aufgrund ihrer Kapazitäten auf dem zweiten Arbeitsmarkt unterfordert. Deshalb bräuchte es Beratungsangebote, die speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Diese könnten sie bei der beruflichen Orientierung unterstützen, klären, wo ihre Stärken und Fähigkeiten liegen, um gemeinsam mit ihnen realistische Berufsperspektiven zu entwickeln. Damit die Integration in die Arbeitswelt auch langfristig gelingt, bedarf es zudem berufsbegleitender Coachingangebote, wenn aufgrund der Spätfolgen weitere Schwierigkeiten auftauchen und es vielleicht um eine berufliche Neuorientierung geht. Solche spezifischen Unterstützungsangebote würden dazu beitragen, dass Survivors bessere Chancen erhalten, einen für sie passenden Platz in der Arbeitswelt finden und dadurch an Eigenständigkeit sowie Lebensqualität gewinnen.
«Für ehemalige Kinderkrebspatienten sind Bewerbungen eine ständige Gratwanderung»
Rahel Morciano, betroffene Mutter
Mögliche Hürden bei der Bewerbung
In der Schweiz leben aktuell über 7000 Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend eine Krebserkrankung überlebt haben. Aufgrund der hohen Heilungsraten wird diese Zahl in Zukunft sehr steigen. Das bedeutet auch, dass eine wachsende Anzahl von jungen Survivors auf der Suche nach passenden Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten ist, die sie befähigen, ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen haben es in unserer Gesellschaft jedoch schwer. So geben Arbeitgeber zu, dass sie Bewerber ohne Leistungseinschränkungen bevorzugen, weil sie sonst Nachteile für ihr Unternehmen befürchten. Auf der anderen Seite wissen junge Survivors oftmals nicht, ob sie gesetzlich dazu verpflichtet sind, in einem Bewerbungsgespräch über ihre Vorgeschichte zu sprechen. In der Praxis allerdings wird die Krankheit häufig aus Angst vor Stigmatisierung verschwiegen, wenn die Spätfolgen nicht (allzu) sichtbar sind. Das kann unter Umständen später zu Problemen führen, wenn deutlich wird, dass die Leistung doch nicht ausreicht. Mithilfe einer Berufsberatung für Survivors könnten junge Menschen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, über ihre Rechte aufgeklärt und gezielt geschult werden, wie sie mit diesem schwierigen Thema umgehen sollen. Denn offen über die Krankheit zu sprechen, wenn man gelernt hat, sich selbst und seine Vorgeschichte positiv zu präsentieren, kann den Ausgang eines Bewerbungsgesprächs durchaus beeinflussen. Arbeitgeber wiederum müssten für das Thema Kinderkrebs und Spätfolgen sensibilisiert werden. Auch das könnte dazu beitragen, dass Survivors mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhalten.
Unser Engagement
Kinderkrebs Schweiz bietet verschiedene Unterstützungs- und Vernetzungsangebote an, damit Survivors und ihre Eltern während und nach der Erkrankung besser informiert und begleitet werden. Dazu gehören die 2021 vom Dachverband initiierten, kostenlosen Rechtssprechstunden. Sie geben professionelle Hilfestellung bei sozialversicherungsrechtlichen und berufsbezogenen Fragen. Kinderkrebs Schweiz hat bereits 2017 eine Fachstelle für Survivors und ihre Familien eingerichtet. Diese schweizweit einzigartige Anlaufstelle informiert und berät Betroffene, setzt sich für deren Interessen ein und organisiert wichtige Vernetzungsmöglichkeiten. Zudem bietet der Dachverband regelmässig fachlich begleitete Wochenenden für Eltern eines Survivors an. Dort können sich betroffene Väter und Mütter mit Experten über das Thema der Spätfolgen, Nachsorge und Zukunftsperspektiven ihres Kindes austauschen. Im Bereich der Forschung fördert Kinderkrebs Schweiz unterschiedliche Projekte, so zum Beispiel die «Swiss Childhood Cancer Survivor Study». Die Langzeitstudie untersucht neben den körperlichen Spätfolgen auch die Lebensqualität und mögliche psychosoziale Probleme, wie in der Schule oder im Berufsleben. Ihre Erkenntnisse tragen dazu bei, die Behandlung, Nachkontrollen und Lebensqualität von ehemaligen und künftigen Patienten zu verbessern. Um dem grossen Bedürfnis der Betroffenen nach verlässlichen und umfassenden Informationen gerecht zu werden, arbeitet Kinderkrebs Schweiz auch an einer digitalen Infoplattform. Das niederschwellige Angebot richtet sich an aktuelle sowie ehemalige Patienten und ihre Familien. Es zielt darauf ab, alle relevanten Informationen rund um das Leben mit und nach der Krankheit zu sammeln und den Betroffenen kostenlos zur Verfügung zu stellen. All diese von Kinderkrebs Schweiz entwickelten Angebote und Fördermassnahmen sind wichtige erste Schritte. Damit die berufliche und soziale Integration von Survivors in Zukunft besser gelingen kann, sind jedoch umfassendere Massnahmen notwendig.
* Mader L, Michel G, Roser K: Unemployment following childhood cancer—a systematic review and meta-analysis. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 805–12. DOI: 10.3238/arztebl.2017.0805