«Die Situation ist vor allem am Anfang der Erkrankung überwältigend»
Interview mit Dr. med. Eva Maria Tinner, Kinderonkologin am Inselspital Bern
Jedes Jahr erkranken in der Schweiz rund 350 Kinder und Jugendliche an Krebs. Aus medizinischer Sicht besteht die Herausforderung nicht nur darin, den Krebs erfolgreich zu bekämpfen, sondern auch das Spätfolgenrisiko für die Betroffenen möglichst gering zu halten. Dr. med. Eva Maria Tinner, Oberärztin pädiatrische Onkologie und Hämatologie am Inselspital Bern erklärt, mit welchen Herausforderungen die ganze Familie – insbesondere zu Beginn der Behandlung – konfrontiert ist.
Frau Dr. Tinner, die Diagnose Krebs ist sowohl für die Kinder als auch die Eltern ein grosser Schock. Wie erklären Sie den Betroffenen die schlimme Diagnose?
Meistens ahnen die Patienten bereits selbst, dass etwas mit ihrem Körper nicht stimmt. Und auch die Eltern sind beunruhigt, weil ihr Kind anhaltende Beschwerden hat oder in einem schlechten Zustand ist. Hier kann die Diagnose eine gewisse Klarheit schaffen, auch wenn sie schrecklich ist und der Familie im ersten Moment den Boden unter den Füssen wegzieht. Zunächst erkläre ich die Untersuchungsergebnisse, die zur Diagnose geführt haben, und zeige die ersten Schritte der Behandlung auf, damit sich Eltern und Patient nicht mehr so hilflos fühlen. Wir Ärzte beginnen oft schon mit der Aufklärung, bevor wir die Diagnose im Detail kennen. So zum Beispiel, wenn ein Kind Leukämie hat, aber noch unklar ist, um welche Art es sich genau handelt. Sobald wir alle relevanten Informationen zusammen haben und genau wissen, wie die Behandlung aussehen wird, sprechen wir mit den Eltern, wenn möglich in Anwesenheit einer Psychoonkologin und einer Pflegefachfrau. Wir geben einen Überblick über die ganze Therapie, erklären, was genau in der ersten Phase geschieht, welche Nebenwirkungen auftreten können, und worauf zu achten ist. Am Schwierigsten sind die Gespräche bei Diagnosen mit einer sehr schlechten Prognose. Hier können wir keine Heilung als Hoffnung anbieten, sondern müssen von Anfang an über die Linderung der Symptome und die Erhaltung der Lebensqualität sprechen.
Was kommt mit so einer Diagnose auf die Eltern zu?
Die Diagnose stellt das Leben der Familie von einem Tag auf den anderen auf den Kopf. Die Kinder und ihre Eltern bewegen sich monatelang zwischen Zuhause und Spital und sind in dieser Zeit extremen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Meistens dauert die intensive Therapiephase zwischen sechs und zwölf Monaten. Eine Zeit, die geprägt ist von geplanten und ungeplanten Spitalaufenthalten und der konstanten Angst, dass das Kind vielleicht nicht überlebt. Bei manchen Krebsarten kann die Behandlung bis zu zwei Jahren dauern, weil noch eine Erhaltungstherapie hinzukommt. Das ist zum Beispiel bei einer akuten lymphoblastischen Leukämie der Fall, die zu den häufigsten Krebserkrankungen im Kindesalter zählt. Im Anschluss an die Therapie finden anfangs engmaschige, später dann in grösseren Abständen Kontrolluntersuchungen statt, die sowohl bei den Kindern als auch Eltern erneut Ängste auslösen können. Eltern mit einem krebskranken Kind machen sich ständig Sorgen, so können zum Beispiel in der Schule Infektionen kursieren, die für das krebskranke Kind lebensbedrohlich sein können. Darunter auch solche, die durch die empfohlenen Impfungen verhindert werden könnten, wie zum Beispiel Masern.
Was bedeutet das für den Alltag der betroffenen Familien?
Das krebskranke Kind muss meistens direkt nach der Diagnose sofort für mindestens zwei Wochen ins Spital. Normalerweise ist dann immer ein Elternteil oder eine sehr enge Bezugsperson beim ihm. Das ist gerade bei sehr kleinen Kindern besonders wichtig. Wenn unsere Patienten dann nach Wochen wieder nach Hause dürfen, müssen sie weiterhin sehr aufmerksam betreut werden. Eltern sind dann gezwungen, sich innert kürzester Zeit von medizinischen Laien zu Spezialisten zu entwickeln. Sie müssen zum Beispiel Medikamente unter die Haut spritzen und sehr komplexe Entscheidungen fällen oder zumindest mittragen. Während der intensiven Therapiephasen müssen die Kinder immer wieder geplant zur Chemotherapie oder Bestrahlung hospitalisiert werden. Zudem können Komplikationen, wie zum Beispiel Infektionen, auftreten, weil das Immunsystem der Kinder geschwächt ist. Dann müssen die Kinder meist für unbestimmte Zeit ins Spital. Das sind nur ein paar Beispiele, die illustrieren, warum Eltern bei einer Krebserkrankung ihres Kindes ihren Alltag komplett umkrempeln müssen. Oft bekommen sie nicht mehr alles unter einen Hut, vor allem dann, wenn sie beide berufstätig sind und Geschwister da sind, die häufig zu kurz kommen. Dann kann es sein, dass ein Elternteil gezwungen ist, seine Arbeit zu reduzieren oder ganz aufzugeben, zumindest während der intensiven Phase der Therapie. Hinzu kommen manchmal Schuldgefühle, «Warum ist gerade mein Kind erkrankt, was habe ich falsch gemacht?». Auch wird der Glaube oder das Urvertrauen, dass schon alles gut kommt, zutiefst erschüttert.
Was raten Sie den Betroffenen?
Die Situation ist vor allem am Anfang der Erkrankung überwältigend. Eltern und Patienten sind in einem Ausnahmezustand. Deshalb ist es wichtig, einen Schritt nach dem anderen zu machen und auch Hilfe anzunehmen. Um Eltern und Kinder möglichst gut zu unterstützen, arbeiten wir eng mit Psychoonkologen und Sozialarbeitern zusammen. Die Eltern sind oft unsicher, was die Therapien und mögliche Alternativen anbelangt. Es kursieren eben auch viele Falschinformationen im Netz. Hier rate ich unbedingt dazu, uns Ärzte direkt zu fragen, welche Informationsquellen vertrauenswürdig sind und tatsächlich zur Diagnose des Kindes passen. Auch die Gesundheit der Eltern ist wichtig und sie sollten sich nicht scheuen, Hilfe und Auszeiten für sich selbst und für die Paarbeziehung zu beanspruchen. Die Behandlung der Krebserkrankung ist ein Marathon und kein Sprint, also müssen sie dafür sorgen, dass sie nicht völlig ausbrennen, um für ihr Kind die ganze Zeit da sein zu können. Wenn Verwandte, Freunde oder Bekannte helfen wollen, ist es meistens sinnvoll, einfache Aufgaben wie Hilfe im Haushalt, Ausflüge mit den Geschwisterkindern, Kochen von Mahlzeiten usw. zu verteilen. Oft «funktionieren» Eltern in der Intensivphase gut, fallen dann aber bei Therapieende in ein psychisches Loch. Auch hier rate ich den Betroffenen, sich Hilfe bei Fachpersonen zu holen.
Wo bestehen aus Ihrer Sicht als Ärztin noch Versorgungslücken?
Für Eltern ist die finanzielle Entlastung ein zentraler Punkt. Das geht von Lohnausfall, über Fahrt- und Parkkosten bis hin zur Finanzierung von Hilfsmitteln und Medikamenten, in den Fällen, bei denen die Krankenkassen oder die Invalidenversicherung bestimmte Kosten nur teilweise oder gar nicht übernehmen. Momentan springen bei Härtefällen Stiftungen ein, aber diese Hilfen reichen bei Weitem nicht. Wir wissen, dass Eltern, deren Kind Krebs hatte, auch 10 Jahre nach dem Therapieende finanziell schlechter gestellt sind, als Eltern mit gleichaltrigem Kind ohne Krebs. Und für diejenigen Kinder, die kaum Chancen auf Heilung haben, bräuchte es eine gute flächendeckende palliative Versorgung. Auch die Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema bleibt weiterhin wichtig. Es gibt immer noch viele Menschen, die denken, Krebs bedeute einen frühzeitigen Tod. Dabei können wir dank der medizinischen Fortschritte mittlerweile mehr als vier von fünf Kindern heilen. Andererseits gibt es auch Menschen, die nicht glauben, dass wir beispielsweise immer noch nicht alle Hirntumoren heilen können. Es gibt also einen grossen Aufklärungsbedarf rund um das Thema Kinderkrebs.