«Für ehemalige Kinderkrebspatienten sind Bewerbungen eine ständige Gratwanderung»
Interview mit Rahel Morciano, betroffene Mutter
Rahel Morcianos Sohn erkrankte im Alter von 14 Jahren an einem Hirntumor. Heute gilt Jamiro als geheilt, kämpft aber mit den Spätfolgen der Krankheit und Therapie. Seine Eltern setzen alles daran, dass der inzwischen 22-Jährige seinen Berufswunsch in die Realität umsetzen kann, aber die Hürden sind gross.
Frau Morciano, bei Ihrem Sohn wurde 2015 ein Hirntumor diagnostiziert. Wie war das damals für Sie und Ihre Familie?
Die Diagnose hat uns allen den Boden unter den Füssen weggezogen. Wir hatten sehr grosse Angst um unseren Sohn und mussten unser ganzes Leben von einem Tag auf den anderen komplett umorganisieren. Ich war damals berufstätig und musste meine Arbeit aufgeben. Anders wäre es nicht möglich gewesen. Wir waren zunächst komplett überfordert und haben einfach nur noch funktioniert. Nach der Operation und der Chemotherapie war Jamiro zunächst linksseitig gelähmt. Am Anfang ging es hauptsächlich darum, dass er seine Muskeln wiederaufbaut und zu Kräften kommt. Das hat allerdings seine Zeit gebraucht und er war fast zweieinhalb Jahre im Rollstuhl. Heute geht es ihm den Umständen entsprechend gut, doch es ist nichts mehr, wie es vorher war. Die Krankheit hat vieles verändert, aber wir haben gelernt, damit zu leben und das Beste draus zu machen.
Welche Konsequenzen hatte die Krankheit auf die Schule und seine Ausbildung?
Als wir die Diagnose erhielten, war Jamiro gerade in der Sekundarstufe. Obwohl er fast ein ganzes Schuljahr verpasst hat, ist es ihm trotzdem gelungen, die Sek abzuschliessen. Sein Traumberuf war immer Chemieingenieur und er hatte einen klaren Plan: erst eine Laborantenlehre machen und dann mit der technischen Matura Chemie studieren. Aber aufgrund der Spätfolgen war es für ihn unmöglich, überhaupt eine Lehrstelle zu finden. Das war eine sehr belastende Zeit für uns alle. Er bekam eine Absage nach der anderen und wurde nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Als ehemaliger Kinderkrebspatient sind Bewerbungen eine ständige Gratwanderung: «Soll ich sagen, dass ich Krebs hatte oder lieber nicht? Muss ich einen potenziellen Arbeitgeber über meine Krankheit informieren, auch wenn sie länger zurückliegt und ich dadurch meine Chancen gefährde, oder darf ich auch schweigen?». Das sind alles Fragen, die Betroffene beschäftigen. Bei Jamiro war jedoch klar, dass wir offen kommunizieren mussten, weil er körperlich beeinträchtigt ist, Gleichgewichtsstörungen hat und unter Fatigue* leidet. Das heisst, er kämpft wie viele andere Survivors auch mit chronischen Erschöpfungszuständen und muss deshalb sehr genau auf seinen Energiehaushalt achten.
Wie ging es weiter, als feststand, dass er keine Lehrstelle findet?
Aus der Not heraus hat er einen anderen Weg gewählt und die Diplommittelschule besucht. Das gab ihm mehr Zeit, sich weiter zu erholen und gleichzeitig einen sinnvollen Abschluss zu machen. Danach haben wir einen neuen Bewerbungsmarathon gestartet und diesmal hatte er Glück. Er fand eine Lehrstelle als Chemielaborant bei einem Arbeitgeber, der bereit war, ihn trotz seiner Krankheitsgeschichte einzustellen. Das war ein Riesenschritt für ihn und wir haben uns alle sehr gefreut. Nach circa einem Jahr gingen jedoch die Probleme los, weil er aufgrund seiner körperlichen Beeinträchtigungen Schwierigkeiten hatte, bestimmte Laboraufgaben zu erledigen. Daraufhin musste er auf Verlangen des Arbeitgebers verschiedene externe Abklärungen machen. Aufgrund der Testergebnisse wurde ihm ein paar Monate später der Ausbildungsvertrag gekündigt. Uns hat vor allem enttäuscht, dass keinerlei Bereitschaft vorhanden war, nach Lösungen zu suchen, die es ihm ermöglicht hätten, die Lehre doch noch abzuschliessen. Für Jamiro war das ein erneuter Tiefpunkt und er hat sehr unter dieser Situation gelitten. Auf Anraten der Invalidenversicherung (IV) absolvierte er dann verschiedene Schnupperpraktika mit dem Resultat, dass ihm eine KV-Lehre vorgeschlagen wurde. Dies obwohl er immer klar signalisiert hatte, dass ihm eine kaufmännische Ausbildung nicht liegt. Bei der IV scheint das jedoch eine gängige Option für ehemalige Hirntumor-Survivors zu sein. Es ist für uns unverständlich, dass das System derart unflexibel ist. Kein junger Mensch, der eine bösartige Krankheit wie Krebs besiegt hat und Spuren von diesem Kampf davonträgt, sollte gezwungen sein, seine Zukunftswünsche einfach aufzugeben. Deshalb haben wir selbst nach Lösungsmöglichkeiten gesucht, wie er sein Berufsziel vielleicht doch noch verwirklichen kann. Jetzt geht er auf ein Gymnasium, macht dort die Matura und studiert später Chemie.
Wie geht es Ihnen und Ihrem Sohn dabei?
Wir sind jeden Tag von Neuem mit der Krankheit und den Spätfolgen konfrontiert. Man muss sich also auch von der Idee verabschieden, dass man einfach zurück in die Normalität kann. Der Krebs hat das Leben von Jamiro nachhaltig geprägt und es ist nicht immer einfach für ihn, so lange von uns abhängig sein zu müssen, weil er mehr Zeit als Gleichaltrige benötigt. Er ist jetzt 22 und braucht noch zwei Jahre bis zu seiner Matura. Das bedeutet, dass sich zwangsläufig alles nach hinten verschiebt, bis er vielleicht fertig studiert hat, wird er Ende 20 sein. Hinzu kommen weitere Hürden, mit denen wir nicht gerechnet haben. Weil er mit dem Gymnasium einen höheren Bildungsweg gewählt hat, kommt die IV nicht mehr für bestimmte Kosten auf. Hilfsmittel, die ihm den Alltag erleichtern könnten, fallen also weg. Das ist für uns nicht nachvollziehbar, weil es bei ihm nach wie vor um eine Erstausbildung geht. Er hat ja nicht freiwillig entschieden, mit der Lehre aufzuhören, sondern war gezwungen, einen Umweg zu machen, um seinem Ziel, Chemieingenieur zu werden, näher zu kommen. Hätte er die von der IV vorgeschlagene KV-Lehre gemacht, würden die Hilfsmittel weiterbezahlt. So gilt das als Zweitausbildung. Das empfinde ich als sehr ungerecht.
Was bedeutet das finanziell für Sie?
Zunächst einmal sind wir sehr stolz auf ihn, weil er sein Ziel nicht aus den Augen verliert, auch wenn das aufgrund seiner Spätfolgen mehr Zwischenschritte und damit mehr Zeit erfordert. Wir möchten nicht, dass sie ihn in seinem Berufswunsch einschränken, insofern das physisch möglich ist. Das können sich aber nicht alle Familien erlauben. Denn durch die Beeinträchtigungen entstehen viele zusätzlichen Kosten, für die in der Regel die Eltern aufkommen müssen. Zum einen, weil es vielleicht länger geht, bis die Ausbildung - wie in Jamiros Fall - abgeschlossen ist. Zum anderen, weil manche Survivors nicht wie ihre Mitstudenten hinzuverdienen können, weil die Kraft gerade mal fürs Studium, nicht jedoch für einen Nebenjob reicht. Hinzu kommt, dass wir auch länger für die Krankenversicherung, das GA, die Wehrpflichtersatzabgabe und andere Dinge aufkommen müssen, als das normalerweise der Fall wäre.
Was würden Sie sich wünschen, auch für andere Eltern?
Viele Eltern und auch Survivors haben das Gefühl, in dieser schwierigen Situation auf sich allein gestellt zu sein. Uns erging es ähnlich, aber wir hatten die Kraft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich würde mir wünschen, dass es in Zukunft einen besseren Informationszugang zu den Unterstützungsangeboten gibt. Wir mussten alles mühsam selbst zusammensuchen und wären froh gewesen, hätten wir uns zentral an eine Stelle wenden können. Was uns auch sehr beschäftigt, sind die rechtlichen Fragen zur IV, die sich durch die Krankheit und die Spätfolgen ergebe: «Auf welche Leistungen haben wir einen Anspruch und auf was müssen wir achten?». Zudem bräuchte es dringend bessere Berufsberatungsangebote für Survivors, damit sie einfacher Zugang zu einer guten Ausbildung erhalten und nicht wie mein Sohn riskieren müssen, zum Beispiel in eine KV-Lehre «abgeschoben» zu werden. Denn so wie er haben viele keine kognitiven Beeinträchtigungen, sind aber vielleicht körperlich eingeschränkt und deshalb nicht voll leistungsfähig. Für sie alle würde ich mir wünschen, dass sie die gleichen Chancen und Möglichkeiten wie Gleichaltrige erhalten, einen Beruf ergreifen zu können, der ihren Wünschen entspricht und der sie unabhängig macht. Doch die Realität sieht leider anders aus.
* Fatigue ist ein belastendes, anhaltendes, subjektives Gefühl der körperlichen, emotionalen und/oder kognitiven Müdigkeit oder Erschöpfung im Zusammenhang mit der Krebserkrankung oder -behandlung, das nicht im Verhältnis zur aktuellen Aktivität steht und die gewohnte Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Mehr dazu hier.