Eltern an der Belastungsgrenze
Mit der Diagnose Krebs verändert sich das Leben der ganzen Familie schlagartig: Eltern und Kinder bewegen sich über Monate hinweg zwischen Zuhause und Spital und stehen in dieser Zeit unter extremen Belastungen. Die meisten Patienten sind Kleinkinder, die ihre Eltern während der langen Therapie täglich brauchen. Neu sieht das Gesetz für Eltern schwer kranker Kinder einen Betreuungsurlaub von 14 Wochen vor. Im Fall einer Krebstherapie, die sich über ein Jahr und länger hinziehen kann, reicht diese Zeit aber nicht aus. Um Eltern weiter zu entlasten, bräuchte es flexiblere Arbeitsformen. Wenn Arbeitnehmende in der Pandemie-Zeit unkompliziert von Zuhause arbeiten konnten, warum dann nicht auch längerfristig Eltern von krebskranken Kindern?
Eltern stehen aber nicht nur vor grossen organisatorischen und psychischen Herausforderungen, sondern es kommen auch unerwartete Ausgaben hinzu, die das Familienbudget belasten und Familien in existentielle Not bringen können. Dazu gehören Mehrkosten für Spitalbesuche, Selbstbehalte, auswärtige Verpflegung, Geschwisterbetreuung und psychosoziale Unterstützung, die durch Kranken- oder Sozialversicherungen häufig nicht gedeckt sind. Als würde dies nicht schon belastend genug sein, erfahren manche Eltern, dass ein Teil der Therapiekosten von den Krankenkassen nicht zurückerstattet wird. Das kann sehr zermürbend sein, in einer Zeit, in der sich alles um das kranke Kind dreht und Eltern oft kaum noch Kraft und Energie für etwas Anderes haben.
«Es hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen»
Interview mit Susanne Mattle Rohrer, betroffene Mutter
Gegen die Einsamkeit ankämpfen
An Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche werden durch die monatelange Therapie aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld gerissen. Auf intensive stationäre Aufenthalte folgen Wochen und Monate der Genesung. In dieser Zeit können sie oft nicht am Schulunterricht teilnehmen oder sich mit Freunden treffen – zu gross ist die Gefahr von Überforderung oder Infektionen. Viele von ihnen verpassen deshalb den Anschluss im Unterricht, müssen vielleicht eine Klasse wiederholen und leiden unter den fehlenden Kontakten zu den Klassenkameraden. Auch wenn es Unterrichtsangebote in den Spitälern gibt, sind die Lösungen von Kanton zu Kanton unterschiedlich und können keinesfalls das vertraute soziale Umfeld ersetzen.
Noch schwieriger wird es, wenn die Betroffenen isoliert zuhause sind und nicht oder nur punktuell zur Schule gehen können. Hier hat die Corona-Krise gezeigt, dass Online-Unterricht im Klassenverband sehr wohl möglich ist. Wenn dieses Angebot auch längerfristig für krebskranke Kinder und Jugendliche zur Verfügung stünde, könnte verhindert werden, dass die Betroffenen weder bildungsmässig noch sozial den Anschluss verlieren, wie das bisher oft der Fall ist.
«Ich wünsche mir konkrete Angebote und Massnahmen für den Einstieg ins Arbeitsleben»
Interview mit Delia Mazuret, Survivorin
Kinderkrebs ist eine seltene Krankheit
Kinder und Jugendliche erkranken an über 50 verschiedenen Krebsarten, am häufigsten sind sie von Leukämien, Tumoren im Gehirn und Rückenmark und von Lymphomen betroffen. Kinderkrebs ist anders als Erwachsenenkrebs und gehört zu den seltenen Krankheiten. Vier von fünf krebskranken Kindern und Jugendlichen können heutzutage dank medizinischer Fortschritte geheilt werden, aber immer noch stirbt in der Schweiz fast jede Woche ein Kind an Krebs. Somit bleibt Krebs – nach Unfällen – die häufigste krankheitsbedingte Todesursache in dieser Altersgruppe. Hinzu kommt das Risiko, dass viele Betroffene auch nach einer erfolgreichen Therapie dauerhaft an den Spätfolgen der Krankheit und der Behandlung leiden. Der Krebs begleitet sie und ihre Familien oft ein Leben lang.
Eltern und Kinder brauchen dringend mehr Unterstützung
Auch nach einer erfolgreichen Krebstherapie kann sich die Lebenssituation der ganzen Familie bleibend verändern. Wenn eine Rückkehr in das alte Leben aufgrund der Spätfolgen zum Beispiel im Falle eines Hirntumors nicht mehr möglich ist, kommen viele Fragen in Bezug auf die schulischen und beruflichen Perspektiven auf. Manchmal wissen Eltern und Survivors nicht, wohin sie sich wenden können und welche Hilfen ihnen zustehen. Auch wenn es vielen Betroffenen gelingt, trotz ihrer Einschränkungen, eine Ausbildung zu absolvieren, ist es nicht immer möglich, eine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt zu finden. Und manche merken erst nach Jahren, dass ihre Leistungsfähigkeit nachlässt, weil die Spätfolgen zunehmen. Eltern wiederum, deren Kinder nie auf eigenen Beinen stehen und finanziell unabhängig sein können, sind ein Leben lang gefordert und fühlen sich oft alleine gelassen. Deshalb braucht es dringend mehr Anlaufstellen, die Survivors und ihre Eltern psychologisch und sozialrechtlich beraten sowie wirksame und langfristige Unterstützung bei der beruflichen Integration und im Arbeitsleben anbieten.
«Der Kontakt zur Schule ist immens wichtig und darf auf keinen Fall abreissen»
Interview mit Fausto Moser*, betroffener Vater
«Die Behandlung der Krebserkrankung ist ein Marathon und kein Sprint»
Interview mit Dr. med. Eva Maria Tinner
Die Spätfolgen von Kinderkrebs
Standen früher die Heilung und das Überleben im Vordergrund, so geht es heute vermehrt um Fragen der Lebensqualität nach einer Intensivtherapie. Bis zu 80 Prozent der ehemaligen Kinderkrebspatienten (Survivors) leiden auch noch als Erwachsene an den körperlichen und psychischen Folgen der Erkrankung und Therapie.
Welches Spätfolgerisiko ein Kind hat, hängt von der erhaltenen Therapie und von der Veranlagung des Kindes ab. Oft sind Survivors nur ungenügend über die Risiken informiert, weil in der Schweiz nach wie vor eine strukturierte und flächendeckende Nachsorge fehlt. Insbesondere beim Übertritt von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin ist der Informationsaustausch häufig nicht optimal gewährleistet. Damit wird eine wichtige Chance verpasst, durch regelmässige und personalisierte Nachsorgeuntersuchungen Spätfolgen frühzeitig zu erkennen und deutlich besser zu behandeln. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat Kinderkrebs Schweiz eine nationale Fachstelle ins Leben gerufen, die Survivors und ihre Eltern berät und unterstützt, vielfältige Vernetzungs- und Austauschangebote anbietet sowie ihre Interessen vertritt.