Fast jeden Tag erkrankt in der Schweiz ein Kind oder Jugendlicher an Krebs. Die lebensbedrohliche Diagnose und anschliessende Therapie stellen für die jungen Menschen und ihr Umfeld eine immense physische und emotionale Belastung dar. Auch wenn die Heilungschancen mittlerweile gut sind, hinterlassen die Krankheit und intensive Behandlung häufig Spätfolgen, die sich auf die physische und psychosoziale Gesundheit der sogenannten Survivors auswirken können. Ein Grossteil der Kinderkrebspatienten ist während der Schul- und Ausbildungszeit mit der Erkrankung konfrontiert. In diesen Jahren werden zentrale Weichen für das spätere Leben gelegt, Bildungswege eingeschlagen, das Selbstwertgefühl aufgebaut und für die Identitätsfindung wichtige Freundschaften geschlossen. Weil die Krankheit nicht nur körperliche und seelische, sondern auch psychosoziale Folgen nach sich ziehen kann, kommt der schulischen Reintegration eine besonders grosse Bedeutung zu.
«Ich habe mich sehr oft einsam gefühlt»
Raphaël Salomon, ehemaliger Leukämiepatient und Initiator eines Schulprojekts, das krebskranke Kinder unterstützt
Schule als wichtige Stütze
Schule ist mehr als nur ein Ort der reinen Wissensvermittlung. Sie steht für Alltag und Normalität und fördert die Persönlichkeitsentwicklung. Umso wichtiger ist sie deshalb auch für krebskranke Kinder und Jugendliche. Denn die Fortsetzung des Schulunterrichts in vertrauter Umgebung kann ihnen in dieser äusserst schwierigen Zeit ein Gefühl der Stabilität und Zugehörigkeit vermitteln, Hoffnung auf ein Leben nach dem Krebs geben und sich dadurch positiv auf ihr seelisches Wohlbefinden und den Heilungsprozess auswirken. Internationale Studien betonen deshalb die Wichtigkeit, junge Krebspatienten möglichst frühzeitig wieder in den Schulalltag zu integrieren. So lässt sich zum einen sicherstellen, dass Wissenslücken nicht zu gross werden und zum anderen, dass die wichtigen sozialen Kontakte zu den Mitschülern bestehen bleiben. Gelingt die Rückkehr in die Schule nicht, können abgebrochene Schullaufbahnen unerfüllte Berufswünsche und psychosoziale Folgen wie Angstzustände, Depressionen und Vereinsamung die Folge sein. Viele dieser jungen Menschen sehnen sich deshalb nach einem Stück Normalität, in das sie wieder eintauchen und die Krankheit vielleicht für einen Moment vergessen können. Die Schule und das vertraute soziale Beziehungsnetz aus Gleichaltrigen sind dabei eine wichtige Stütze.
Unterricht während und nach der Therapie
Die Krebsdiagnose bedeutet für die betroffenen Kinder und Jugendlichen den Beginn einer lang andauernden und sehr belastenden Therapie mit ungewissem Ausgang. Bei einer Leukämie beispielsweise, der häufigsten Krebserkrankung in dieser Altersgruppe, sind die Heilungsaussichten mittlerweile sehr gut. Die Behandlungsphase erstreckt sich jedoch im Schnitt über zwei Jahre, mit stationären und ambulanten Spitalaufenthalten. Nicht nur die physischen Auswirkungen der Therapie, wie Erschöpfung, Übelkeit und Schmerzen, sondern auch die zahlreichen Behandlungs- und Kontrolluntersuchungen führen zu häufigen Absenzen, was das Lernen im schulischen Umfeld erschwert. In der Anfangsphase der Krankheit ist das Verständnis für das betroffene Kind in der Regel sehr gross. Aber trotz des hohen persönlichen Engagements einzelner Lehrpersonen mangelt es oftmals an Wissen über die Krankheit, pädagogischem Rüstzeug und Ressourcen. Und auch nach einer erfolgreichen Behandlung kann sich die Integration als schwierig erweisen. Denn die Krankheit und Therapie hinterlassen in zwei Dritteln der Fälle Spätfolgen, die manchmal erst Jahre später auftreten können. Deren Art, Häufigkeit und Schwere hängen von unterschiedlichen Faktoren ab und sind individuell sehr unterschiedlich. In Bezug auf die Schule sind es vor allem die kognitiven, emotionalen oder sozialen Spätfolgen, wie zum Beispiel Probleme im Bereich der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit oder chronische Müdigkeit, die das Lernen erschweren können. Da es keine schweizweit verbindlichen Regeln gibt, wie die schulische Unterstützung für Kinder mit schweren oder chronischen Erkrankungen konkret aussehen muss, gibt es dementsprechend beträchtliche kantonale und regionale Unterschiede.
«Oscars Spätfolgen haben die Schule nicht interessiert»
Camilla Adby, Mutter eines Survivors
Kontakt halten und Lernrückstände vermeiden
In der Akutphase sorgen die Spitalschulen dafür, dass die jungen Krebspatienten weiterhin unterrichtet werden und der Kontakt zur Heimatschule nicht abbricht. In den Intervallen zwischen den einzelnen Therapieblöcken sind sie meistens zu Hause und können am Unterricht an ihrer Schule teilnehmen. Aber nicht immer lassen die Behandlungspläne und der gesundheitliche Zustand einen durchgehenden Schulbesuch zu. Online-Unterricht mit technischen Hilfsmitteln, wie einem Tablet oder Schulroboter, die es dem Kind zumindest stundenweise erlauben würden, dem Unterricht in seiner Klasse zu folgen, haben es bisher nicht geschafft, sich flächendeckend durchzusetzen. Auch wenn die Corona-Pandemie gezeigt hat, dass eine Mischung aus Online- und Hybrid-Unterricht sehr wohl möglich ist. Ein Umstand, den betroffene Eltern immer wieder beklagen, da es ihrem Kind helfen würde, Lernrückstände zu vermeiden und den Kontakt zu seinen Mitschülern nicht zu verlieren. Zum Beispiel auch in den Phasen, in denen es aufgrund der Therapien isoliert zuhause bleiben muss, weil sein Immunsystem geschwächt ist und jeder Infekt lebensbedrohlich sein kann.
«Ob die schulische Integration gelingt, ist Glückssache»
Barbara Kohler, Fachpsychologin für Neuropsychologie am Inselspital Bern
Lehrer spielen eine Schlüsselrolle
Auch wenn Lehrpersonen heutzutage in vielerlei Hinsicht stark gefordert sind, ist ihre Unterstützung bei der schulischen Reintegration essenziell. Internationale Studien belegen, wie wichtig es ist, dass sie über das Thema Kinderkrebs und die besondere Situation ihres Schülers informiert sind. So zeigen Lehrer, die über die notwendigen Kenntnisse verfügen, mehr Verständnis und können ihren Unterricht während und nach der Therapie besser an die spezifischen Bedürfnisse anpassen. Geschulte Lehrpersonen leisten somit die beste Unterstützung, weshalb ihnen beim Integrationsprozess eine Schlüsselrolle zukommt. Viele Lehrer sind sehr engagiert und versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen und zu unterstützen. In Bezug auf die Krankheit mangelt es in der Praxis jedoch häufig an Informationen sowie an Unterstützung und Schulungen im Umgang mit den betroffenen Schülern. Weil das Schulwesen je nach Kanton unterschiedlich organisiert ist, gibt es auch keine einheitlichen Richtlinien, an denen sich die Lehrpersonen orientieren könnten. Nicht alle krebskranken Kinder und Jugendlichen sind in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt und benötigen eine spezielle Unterstützung. Bei denjenigen Schülern aber, die aufgrund der Therapie und den Spätfolgen einen besonderen Förderbedarf haben, sind die Lehrpersonen umso stärker gefragt. Um sie bei dieser Aufgabe zu unterstützen, bräuchte es an allen Schulen entsprechendes Informationsmaterial sowie gezielte Ausbildungsangebote, pädagogische Hilfsmittel und generell eine engere Zusammenarbeit aller Beteiligten.
«Der Kontakt zur Schule ist immens wichtig und darf auf keinen Fall abreissen»
Fausto Moser*, betroffener Vater
Gleichberechtigte Bildungschancen
Obwohl Kinder mit einem erhöhten Förderbedarf grundsätzlich das Recht auf eine adäquate, individuelle Förderung haben, fühlen sich Eltern und Kinder im Schulalltag häufig mit ihren Problemen alleingelassen. So wissen sie zum Beispiel nicht immer, welche Rechte sie haben und wohin sie sich wenden können, wenn das Kind einen speziellen Förderbedarf hat oder einen Nachteilausgleich braucht. Dies wird insbesondere bei ehemaligen Hirntumorpatienten deutlich. Diese kämpfen zwar häufig mit kognitiven Einschränkungen, sind aber nicht zwingend in ihrer Intelligenz eingeschränkt. So hängt es zum einen vom Kanton, zum anderen vom Engagement der Verantwortlichen vor Ort ab, inwieweit das Recht auf Bildung in der Realität umgesetzt wird. Viele der krebsbetroffenen Kinder und Jugendlichen, die mit schulischen Schwierigkeiten kämpfen, wünschen sich gemeinsam mit ihren Eltern ein gerechteres Schulsystem. Ein System, das ihren Bedürfnissen mit Akzeptanz und Verständnis begegnet, das sie nicht ausgrenzt, sondern miteinbezieht und ihnen einen gleichberechtigten Zugang zu den bestmöglichen Bildungschancen ermöglicht.
Unser Engagement
Kinderkrebs Schweiz macht sich auf verschiedenen Ebenen für die Betroffenen und ihre Familien stark. So bietet der Dachverband seit 2021 in Zusammenarbeit mit Procap kostenlose juristische Erstberatungen an, die auch bei schulischen Fragen im Zusammenhang mit einer Kinderkrebserkrankung helfen. 2017 wurde eine nationale Fachstelle für ehemalige Kinderkrebspatienten (Survivors) eingerichtet, die Betroffene informiert, berät und unterstützt. Parallel dazu engagiert sich die Fachstelle in internationalen Netzwerken zur Verbesserung der Nachsorge und bietet Veranstaltungen für Survivors an. Deren Eltern können sich im Rahmen von fachlich begleiteten Workshops über wichtige Themen informieren, untereinander austauschen und vernetzen. Des Weiteren fördert Kinderkrebs Schweiz verschiedene Forschungsprojekte, wie die «Swiss Childhood Cancer Survivor Study». Die Langzeitstudie untersucht neben den körperlichen Spätfolgen auch die psychosozialen Probleme, darunter solche, die im Schulalltag auftreten können. Die Erkenntnisse tragen dazu bei, die Lebensqualität von ehemaligen und künftigen Patienten langfristig zu verbessern. Ein neueres Projekt des Dachverbandes ist eine digitale Infoplattform rund um das Thema Kinderkrebs. Das Angebot wird sich an Betroffene, Angehörige und Interessierte richten. Dazu können auch Lehrpersonen gehören, die sich über die Krankheit und ihre Auswirkungen auf die verschiedenen Lebensbereiche der Betroffenen informieren möchten. Zudem vermitteln auf Wunsch der Eltern auch einige der Mitgliedsorganisationen von Kinderkrebs Schweiz bei schulischen Problemen, wenn bei der Kommunikation mit der Schule Schwierigkeiten auftreten.